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Der Hirte (German Edition)

Der Hirte (German Edition)

Titel: Der Hirte (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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in den Schnee, hob ihn hoch und warf ihn sich über die Schulter. Johannes schrie auf und versuchte, sich im Pelz festzuhalten. Blanka wimmerte, den Kopf in Rainalds Halsbeuge vergraben. Johannes schien fast so schwer zu sein wie ein Erwachsener; fast so schwer wie Wolfram, als Rainald damit kämpfte, seinen Leichnam auf Caesars Rücken zu heben. Er würde nicht einmal mehr die Hälfte schaffen mit dieser Last; mit viel Glück würde er bis zum Galgen gelangen und dort einen letzten, kurzen Kampf mit bloßen Händen führen. Vermutlich war es eine Art von poetischer Gerechtigkeit, zu Füßen des Galgens zu sterben. Er taumelte vorwärts.
Zu seiner Überraschung waren die Wölfe nicht mehr da. Er drehte den Kopf. Er sah sie über den Schnee hetzen, einer kleinen, schmalen Gestalt hinterher, die auf die Obstbäume zulief. Rainald rannte weiter. Es war wie an der Fähre, nur, dass Rainald diesmal nicht mit dem Schwert dazwischentreten würde. Das Schwert lag irgendwo dort hinten im Schnee. Die Wölfe schienen beinahe unecht zu sein, Wesen aus einem dunklen Traum, die über der weißen Fläche dahinflogen und mit jedem Satz zu der flüchtenden Klosterschwester aufschlossen. Sie schrie immer noch, schwenkte die Arme; Rainald sah, wie sie den Schleier verlor und nicht einmal stockte. Der Schleier flappte wie ein ungeschickter, schmutzig weißer Vogel durch die Luft, gaukelte auf den Boden – die Wölfe rannten darüber hinweg, und er war verschwunden. Die Wölfe würdigten Rainald und die Kinder keines Blickes.
„Es klappt, bei Gott, es klappt!“, keuchte Rainald und wusste nicht, dass er es laut gesagt hatte. Er versuchte, noch schneller zu laufen. Die Stadtmauer schwankte, und ihre Umrisse lösten sich bei der Erschütterung jedes Schritts in mehrfache Konturen auf. Rainald stierte sie an wie ein Verdurstender einen Brunnen. Er sah undeutlich, wie die Wachen auf dem Wehrgang zusammenliefen und nach draußen deuteten.
„Macht das Tor auf!“, brüllte er. „Die Wölfe sind hinter uns her!“ Er ahnte, dass sie ihn über die Entfernung hinweg nicht hören konnten. Er brüllte es dennoch ein zweites Mal; er fühlte sich fast glücklich, dass es überhaupt Sinn zu geben schien, es zu brüllen. Er rannte am Galgen vorbei, fühlte den kalten Hauch seiner Gegenwart und vergaß ihn wieder. Schon ließ sich bei den Männern auf dem Wehrgang erkennen, welche Farben ihre Tuniken hatten und ob sie Bärte trugen oder nicht. Johannes stöhnte und ächzte und war ein Mühlstein auf der rechten Schulter, Blanka eine unwesentlich leichtere Last auf seinem linken Arm. Rainalds Muskeln und Sehnen brannten, jeder Atemzug bestand aus Feuer.
„Macht das Tor auf!“
Er wandte sich im Laufen um. Der Schock traf ihn wie ein Schlag. Die Wölfe waren wieder auf seinen Fersen, ein Angriffskeil aus einem Dutzend und mehr Tieren. Vielleicht bildete er es sich ein, doch er konnte ihre Pfoten über den Schnee hetzen hören. Hinter ihnen, am Ende des Rudels, mit weiten, raumgreifenden Sprüngen: der Anführer. Der wahnsinnig gewordene Schäferhund. Er überragte alle anderen und bellte und geiferte wie ein tobsüchtiger Drache, trieb sein Rudel vor sich her.
„Macht das Tor …“
Die Wachen hatten ihre Bögen gehoben und gespannt. Sie zielten auf ihn. Es war ein zweiter Schock. Er hatte vergessen gehabt, dass der Unterschied, ob die Wölfe ihn kriegten oder die Bürger der Stadt, nur darin lag, dass er auf unterschiedliche Art sterben würde. Beinahe wäre er stehengeblieben.
„Lauf weiter und vertraue!“, flüsterte eine Stimme in seinem Ohr.
Fünf Schritte weiter wurde ihm klar, dass es nicht die Stimme Blankas gewesen war. Die Pfeile auf den Bögen folgten ihm. Hundertfünfzig Schritte. Auf diese Entfernung würden sie nicht vorbeischießen. Hundertzwanzig Schritte. Auf diese Entfernung würden sie absolut tödlich sein. Hundert Schritte … ein Treffer würde jeden Einzelnen von ihnen auf den Boden nageln. Er hatte die Stimme gekannt. Seine Haare stellten sich auf. Sein Herz wollte vor Erschöpfung zerspringen. Die Wölfe japsten und knurrten, ihre Pfoten trommelten so schnell wie sein Herzschlag. Er konnte sie riechen. Er hatte die Stimme gekannt.
„Gnade!“, schrie er. „Macht das Tor auf!“
Die Pfeilspitzen folgten ihm. Ein Gesicht tauchte zwischen den Stadtwächtern auf. Als er es das letzte Mal gesehen hatte, hatte es noch blasser und verbissener ausgesehen als jetzt und ihn erneut über eine Schwertklinge hinweg angesehen. Sie
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