Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hintermann

Der Hintermann

Titel: Der Hintermann
Autoren: Daniel Silva
Vom Netzwerk:
an Gabriel vorbeiging, hielt er sich unnatürlich aufrecht, als versuchte er dadurch das zusätzliche Gewicht in der Bauchregion zu kompensieren. Der Stoff seiner Gabardinehose vibrierte bei jedem Schritt, als zitterten seine Knie- und Hüftgelenke unter dem Gewicht des Sprengsatzes. Natürlich konnte der schwitzende junge Mann in dem übergroßen Mantel ein harmloser Bürger sein, der mittags Einkäufe machte, aber Gabriel vermutete etwas anderes. Er glaubte, dieser einige Schritte vor ihnen gehende Mann verkörpere das Finale eines ganz Europa umspannenden Terrortages. Erst Paris, dann Kopenhagen, nun London.
    Gabriel wies Chiara an, in dem Restaurant Schutz zu suchen, und wechselte rasch auf die andere Straßenseite. Er beschattete den Mann ungefähr hundert Meter weit und beobachtete dann, wie er um die Ecke in den Eingang des Covent Garden Market abbog. Auf der Ostseite der Piazza gab es zwei Cafés, die beide zur Lunchzeit sehr gut besucht waren. Auf einem sonnigen Fleck zwischen ihnen standen drei Beamten der Metropolitan Police beieinander. Keiner von ihnen achtete auf den Mann, als er die Marktarkade betrat.
    Jetzt musste Gabriel eine Entscheidung treffen. Naheliegend war, dass er den Polizeibeamten seinen Verdacht mitteilte – naheliegend, fand er, aber nicht unbedingt optimal. Höchstwahrscheinlich würden die Beamten auf seine Warnung reagieren, indem sie ihn beiseitenahmen und ausfragten, wodurch kostbare Sekunden verloren gingen. Oder – noch schlimmer – sie würden den Mann stellen, worauf er garantiert seinen Sprengsatz zünden würde. Obwohl praktisch jeder Beamte der Met eine grundsätzliche Unterweisung in Terroristenbekämpfung erhalten hatte, verfügten nur wenige über die Erfahrung oder die Feuerkraft, die notwendig war, um einen Dschihadisten, der den Märtyrertod sterben wollte, aufzuhalten. Gabriel verfügte über beides, und dies würde nicht der erste Selbstmordattentäter sein, den er ausschaltete. Er glitt an den drei Polizeibeamten vorbei und betrat die Arkade.
    Der tote Mann hatte jetzt fast zwanzig Meter Vorsprung und marschierte wie auf einem Exerzierplatz den erhöhten Laufsteg der Haupthalle entlang. Gabriel vermutete, er trage genügend Sprengstoff und Kleineisen am Körper, um alle Menschen im Umkreis von fünfundzwanzig Metern zu töten. Dem Lehrbuch nach hätte Gabriel außerhalb dieser Zone bleiben sollen, bis es Zeit wurde, aktiv zu werden. Die äußeren Bedingungen erforderten jedoch, dass er den Abstand verringerte, auch wenn er sich dadurch in größere Gefahr brachte. Auch unter besten Voraussetzungen wäre ein Kopfschuss aus fünfundzwanzig Metern Entfernung selbst für einen Meisterschützen wie Gabriel Allon sehr schwierig gewesen. In dieser belebten Einkaufspassage war er nahezu unmöglich.
    Gabriel spürte das Mobiltelefon in seiner Jacke schwach vibrieren. Er achtete nicht darauf, während er beobachtete, wie der tote Mann am Geländer des Laufstegs haltmachte, um auf seine Uhr zu sehen. Gabriel registrierte, dass sie am linken Handgelenk getragen wurde, was ziemlich sicher bedeutete, dass der Zündknopf sich in der rechten Hand befand. Aber weshalb sollte ein Selbstmordattentäter auf seinem Weg zum Märtyrertum auf die Uhr sehen? Das musste bedeuten, dass er den Auftrag hatte, sein Leben – und das möglichst vieler Unbeteiligter – zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beenden. Gabriel vermutete, hier spiele irgendeine Art Symbolismus eine Rolle. Das war oft der Fall. Al-Qaida-Terroristen und ihre Nachahmer liebten Symbole, vor allem wenn sie mit Zahlen zu tun hatten.
    Inzwischen war Gabriel so nah an ihn herangekommen, dass er die Augen des toten Mannes sehen konnte. Sein Blick war klar und zielstrebig, ein ermutigendes Zeichen. Es bedeutete, dass er weiter an seinen Auftrag statt schon an die fleischlichen Freuden dachte, die ihn im Paradies erwarteten. Sobald er anfing, von den parfümierten glutäugigen Huris zu träumen, würde sich das auf seinem Gesicht abzeichnen. Dann würde Gabriel eine Entscheidung treffen müssen. Aber vorläufig wollte er, dass der tote Mann noch eine Zeit lang in dieser Welt blieb.
    Der tote Mann sah ein weiteres Mal auf die Uhr. Gabriel warf einen raschen Blick auf seine: 14.34   Uhr. Er glich die Ziffern mit der Datenbank seiner Erinnerung ab, suchte irgendeine Querverbindung. Er zählte sie zusammen, zog sie voneinander ab, multiplizierte sie, kehrte sie um und ordnete sie neu an. Dann dachte er an die beiden früheren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher