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Der Himmel über New York (German Edition)

Der Himmel über New York (German Edition)

Titel: Der Himmel über New York (German Edition)
Autoren: Verena Carl
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alles fallen lasse. Tausend Euro in großen Scheinen landen auf dem Teppichboden vor dem Schalter. Jetzt fällt mir auch ein, warum das Muster mir so bekannt vorkommt. Es ist das gleiche wie im Büro des Schuldirektors. Ein Teppich wie gemacht für Verhöre.
    Als ich mit dem Geldbündel wieder auftauche, deutet der Beamte ein Lächeln an. Vielleicht zuckt sein Mundwinkel auch nur nervös. Ich will gerade anfangen, ihm wie am Bankschalter die Hunderter vorzuzählen, da winkt er ab, als würde er mit zwei Fingern eine Fliege verjagen, und deutet auf meine Hand. Jetzt will der doch tatsächlich auch noch einen Fingerabdruck.
    Bisher fühle ich mich nicht besonders willkommen im Land of the Free . Und frei schon gleich gar nicht.
    Schließlich und endlich greift der Zollbeamte nach einem Stempel und setzt ihn sorgfältig auf das grüne Papier. »Okay, you can go now« , seufzt er, schiebt mir meinen Pass zu und nickt in Richtung eines braunen Schildes mit einem Koffer und der Aufschrift Baggage Claim .
    Ich stolpere geradeaus. Vor der Rolltreppe schaut mich plötzlich die Freiheitsstatue an. Sie ist zehn Zentimeter kleiner als ich, quietschgrün, und reckt mir statt ihrer Fackel ein Reklameschild für eine Autovermietung entgegen. Free Bonus Miles!, steht in großen Buchstaben darauf.
    Jetzt kann das Leben losgehen, denke ich und warte auf ein Gefühl. Ein großes, überwältigendes Gefühl, ein Gefühl wie ein Popsong mit sehr lauten Gitarren. Aber in meinem Kopf bleibt es seltsam still, während Anzugmänner mit Knöpfen im Ohr mich rechts und links überholen und dröhnend in ihre Freisprechmikrofone lachen auf dem Weg zum Gepäckband. Erst dort passiert etwas mit mir, in dem Moment, in dem ich meinen Koffer herunterwuchte und mich umdrehe. Denn auf einmal liegt Manhattan vor mir.
    Zuerst denke ich, es sei eine Fototapete vom Boden bis zur Decke der Flughafenhalle: diese Insel mit ihrer Skyline, wie sie auf Hunderten von Bildern zu sehen ist. Millionen von Fenstern, die die Mittagssonne reflektieren. Ich gehe näher an das Glas. Nein, das ist keine Tapete. Hinter der Fensterfront liegt es wirklich: New York. Glänzend wie ein Schmuckstück in einer riesigen Vitrine.
    Jetzt kann ich den Kontrollbeamten besser verstehen. Er bewacht etwas Wertvolles und darf keine Diebe ins Land lassen. In eine Stadt, in der Flugzeuge zu Waffen werden können.

    Ich brauche einen Moment, um Anne zu finden. Ich weiß nur, dass sie klein und blond sein muss, und halte Ausschau nach einem langen Kleid oder einem gebatikten Rock. Sie ist im Vorteil, schließlich hat sie Fotos von mir gesehen. Trotzdem halte ich es für eine Verwechslung, als diese Frau auf mich zukommt, mir eine Hand hinstreckt, die trotz der Hitze kühl ist.
    Sie ist tatsächlich klein, aber sie hat nichts mit der Hippiefrau gemein, die ich erwartet habe. Im Gegenteil, sie erinnert mich eher an die Lehrerkolleginnen meiner Mutter. Jeans mit geflochtenem Ledergürtel, Baumwollstrickjacke, Schuhe mit flachen Absätzen. Die Frau hat nichts Verträumtes, nichts Romantisches, eher etwas ungemein Praktisches. Als könnte sie für alle Lebenslagen etwas aus ihrer großen Handtasche zaubern, Pflaster, Bindfaden, Briefmarke oder Sicherheitsnadel.
    Während wir gemeinsam meinen Koffer durch eine gläserne Drehtür wuchten, redet sie auf mich ein. »Es ist reizend, dich kennenzulernen. Dein Dad hat mir schon eine Menge von dir erzählt!« Am Ende des Satzes zieht sie ihre Stimme in die Höhe, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie weitersprechen will.
    Vor der Tür umnebelt mich Luft wie aus einer Waschküche. Das Außenthermometer muss kaputt sein: 95 Grad? Dann fällt mir ein, dass die Temperatur in Fahrenheit gemessen wird. Keine Ahnung, wie man das umrechnet.
    »Es ist so warm für Juni!«, ruft Anne übertrieben aus, wobei sie das so sekundenlang dehnt. »Normally, it’s never that sultry before July!« Sie steuert auf einen roten Kleinwagen zu, der genauso praktisch aussieht wie ihre Frisur und ihre Jeans. Schade, ich hätte etwas anderes erwartet. Vielleicht einen alten Käfer voller Schreibschriftgraffiti. Make love, not war .
    Während wir vom Parkplatz auf eine Schnellstraße einbiegen, redet Anne noch immer. Immerhin kann ich sie verstehen. Anders als den unfreundlichen Passkontrolleur. Sie redet weiter über das Wetter, über Jetlag und dass ich meinem Vater ähnlich sehe.
    Vor dem Fenster fliegen grüne Autobahnschilder mit der Aufschrift Jersey Turnpike und
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