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Der Himmel über New York (German Edition)

Der Himmel über New York (German Edition)

Titel: Der Himmel über New York (German Edition)
Autoren: Verena Carl
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klarer, wenn man einen Schritt zurücktritt. Wie ein Bild, das man erst aus der Distanz erkennen kann.«
    Ich verstand nicht, wovon er redete.
    »Was hat Max damit zu tun?«
    »Manchmal habe ich den Eindruck, dass du nicht mehr so glücklich mit ihm bist.«
    Er sah mich nicht an. Ich ihn auch nicht.
    »Wo soll ich denn in New York unterkommen?«, fragte ich nach einem Moment unangenehmen Schweigens.
    »Ich kenne jemanden dort. Eine alte Freundin von mir.«
    So hörte ich zum ersten Mal von Anne.
    »Es muss 1978 gewesen sein, oder so«, erzählte er. »Jedenfalls zu einer Zeit, in der Männer längere Haare hatten als Frauen und alle diese komischen, unförmigen Fellwesten trugen. Anne stand vor mir in der Schlange am Check-in-Schalter im New Yorker Busbahnhof. Ich hatte gerade mein Diplom gemacht, hatte noch keinen Job und ließ mich sechs Wochen ziellos durch Amerika treiben.«
    Er fuhr mit seinen Fingernägeln über den grün geriffelten Stiel seines Weinglases. »Anne und ich, wir waren beide auf dem Weg nach San Francisco. Sie fiel mir sofort auf mit ihren blonden Haaren und dem knallroten Batikrock. Ich konnte es kaum fassen, dass sie sich im Bus zu mir setzte.«
    »Hattest du was mit ihr?«, fragte ich. Im gleichen Augenblick schämte ich mich ein bisschen für meine direkte Frage.
    Mein Vater grinste und strich mit den Fingern durch seine grau-braunen Strähnen. »Nein, hatte ich nicht. Leider nicht. Obwohl ein Greyhound-Bus ein paar Tage braucht, einmal quer durchs Land, und ich mir ein paar Hoffnungen machte. Aber sie hatte gerade nichts am Hut mit Männern. Sagte sie jedenfalls. Ich weiß nicht mehr alle Einzelheiten, auf jeden Fall war es eine traurige Liebesgeschichte. Ein untreuer Mann und ein übler Streit zum Schluss, bei dem es zu einem Unfall kam. Aber frag mich nicht, was genau passiert ist. Anne wollte eine Freundin in Kalifornien besuchen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich hab mich gewundert, dass sie unbedingt meine Adresse haben wollte, als wir in San Francisco ankamen. Sie sagte, es habe ihr noch nie jemand so zugehört wie ich und wir sollten uns unbedingt schreiben. Dabei konnte ich gar nicht so viel zu ihrer Geschichte sagen, weil ich nie besonders gut in Englisch war. Im Gegensatz zu dir.«
    »Vielleicht hat sie das ja deshalb gesagt. Mit dem Zuhören, meine ich. Weil du einfach nicht wusstest, was du antworten solltest. Und sie dachte, du bist besonders tiefsinnig.«
    Er drückte über den Tisch hinweg meinen Oberarm. »Ich hätte nicht erwartet, dass ich wirklich wieder von ihr höre. Amerikaner, die vergessen doch Freundschaften genauso schnell, wie sie sie schließen. Aber drei Monate später landete ein dicker Brief mit einem New Yorker Absender in meiner Studentenbude. Sie war zu einem Typen nach Queens gezogen. Ich weiß noch genau, dass ich mich gleichzeitig gefreut habe und ein bisschen beleidigt war. Weil sie noch an mich gedacht hat, aber scheinbar schon wieder in festen Händen war. Dabei hatte ich ja gar keinen Grund, eifersüchtig zu sein.«
    Er stützte seinen Kopf in die rechte Hand und lächelte versunken. »Meine alte Brieffreundin Anne. Wir haben uns nie wiedergesehen. Aber aus den Augen verloren haben wir uns auch nie. Das letzte Mal hat sie mir zu Weihnachten geschrieben, zum ersten Mal seit etwa fünf Jahren.«
    Ich schüttelte den Kopf. Briefe. In Briefumschlägen. Aus den USA. Wie groß die Welt damals gewesen war und wie groß sie für manche Leute immer noch zu sein schien.
    Statt sich im Internet zu verlinken, über ein Netzwerk Fotos auszutauschen, alltägliche Neuigkeiten zu posten oder sich zu mailen, hatte mein Vater damals auf einen handgeschriebenen Brief gewartet. Und dreißig Jahre später hatte die Frau wohl noch immer nicht mitbekommen, dass man in Kontakt bleiben konnte, ohne dass Bäume dafür sterben mussten.
    »Und?«, fragte ich. »Was schreibt sie?«
    »Der Kerl aus Queens, den sie irgendwann geheiratet hat, lebt schon länger nicht mehr. Aber ihr Brief klang nicht traurig. Sie führt das gemeinsame Lokal weiter, und das scheint gut zu laufen.«
    »Eine Bar?«
    »Eher ein Restaurant. Ein Diner. Ich könnte sie fragen, ob du bei ihr wohnen kannst. Vielleicht für vier oder sechs Wochen.«
    Bei dem Wort Diner dachte ich an einen chromblitzenden Tresen, an Kellnerinnen in rosafarbenen Kitteln und Jungs in schwarzen Lederjacken, die aussahen wie James Dean. Ich konnte meine Begeisterung schwer verbergen.
    Gleichzeitig konnte ich mir sofort Max’
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