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Der Herr vom Rabengipfel

Der Herr vom Rabengipfel

Titel: Der Herr vom Rabengipfel
Autoren: Catherine Coulter
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blickte trotzig zu Merrik auf, dann fügte er hinzu: »Bitte.« Das Wort schien ihm nicht leicht über die Lippen zu kommen.
    »Warum eigentlich nicht?« meinte Merrik gelassen. »Oleg, lebst du noch?«
    »Wenn du dir nicht in den Kopf gesetzt hättest, den kleinen Schmutzfinken zu befreien, würde ich ihm jetzt den Hals umdrehen.«
    »Ich habe es mir aber in den Kopf gesetzt«, entgegnete Merrik. Er musterte den Mann mit der häßlich gezackten Narbe im Gesicht, dessen langes, goldblondes Haar im Nacken zusammengebunden war. Der Mann stand mit hängenden Armen neben dem Burschen. Er war mager, aber muskulös und gesund. Doch vom Kämpfen hatte er wenig Ahnung. Merrik seufzte: »Einverstanden. Wir rudern los, sobald wir auf dem Langboot sind.«
    Oleg blickte verächtlich auf den schmutzigen Burschen, dann auf seine blutende Hand: »Dafür sollte ich dich verprügeln.«
    »Nicht nötig«, sagte der Junge. »Wirklich nicht nötig.« Er schwankte, sein hilfloser Blick flog zu Cleve, dann sackte er zu Boden.
    Cleve versuchte Laren aufzufangen, doch Merrik war schneller. »Bei allen Göttern, der Bursche ist nur noch Haut und Knochen. Und dieses Robbenfell stinkt wie die Pest.«
    »Gebt ihn mir, Herr. Ich trage ihn«, sagte Cleve.
    »Nicht nötig.« Damit schwang Merrik sich die Jammergestalt über die Schulter und fragte sich, ob er wohl noch so lange leben würde, um seinen kleinen Bruder ein letztes Mal zu sehen. Was sollte er mit Taby anfangen, wenn sein älterer Bruder starb?
    Cleve staunte über die plötzliche Wende des Schicksals. Er war in die Gasse geschlichen, in der Hoffnung, Laren zu finden, bevor sie den Wachen in die Hände fiel. Eine Flucht wäre ihr niemals gelungen. Sie war zu schwach und ausgehungert. Dieser Meinung war Thrasco auch, denn sonst hätte er Wachen vor ihrer Kammer aufgestellt. Cleve musterte Merrik verstohlen. Wieso war dieser Mann gekommen, um sie zu befreien? Ihn zu befreien, einen halbwüchsigen Knaben. Cleve glaubte nicht an eine glückliche Fügung. Vermutlich war der Mann ein Bandit, ein Dieb, der Sklaven stahl, um kein Silber ausgeben zu müssen. Er kam aus Norwegen, und von dem wilden, barbarischen Land im Norden hatte Cleve wahre Greuelgeschichten gehört. Die Nordleute waren nicht nur Forscher, Händler und Siedler, sondern auch blutrünstige Krieger, die gnadenlos plünderten, brandschatzten und mordeten. Und dieser Wikinger hatte drei neue Sklaven ergattert, ohne eine einzige Silbermünze zu zahlen. Der Mann hatte natürlich gelogen und gab nur vor, einen Sklavenjungen aus Mitleid mit seinem kleinen Bruder zu retten. Cleve überlegte, was der Fremde wohl wirklich im Schilde führte. Was würde er tun, wenn er herausfand, daß der Bursche in Wahrheit ein Mädchen war?
    Der Silberrabe glitt lautlos durch die dunklen Fluten des Dnjepr. Das Boot war Merriks ganzer Stolz. Er hatte das achtzehn Meter lange Schiff vor drei Jahren von Thorren, einem Schiffsbaumeister in Kaupang, bauen lassen, dessen Kunst weithin bis nach York in Danelagh berühmt war. Das Langboot war in der Mitte gute vier Meter breit. Mit seinem geringen Tiefgang war es nicht für weite Seereisen geeignet, wohl aber für Binnengewässer, da es erhebliche Lasten befördern konnte. Die geschwungenen Schiffswände waren einen Meter fünfzig hoch. Auf den Spanten lagen im Abstand von jeweils drei Fuß gehobelte Fichtenbretter, die bei schlechtem Wetter mühelos hochzuheben waren, um Schlagwasser auszuschöpfen. Jetzt, da das Langschiff mit gesetztem Segel durch die ruhigen Fluten des Dnjepr glitt, lagen im Stauraum unter den losen Planken Truhen mit Gold, Silber, Schmuck und andere Waren, die Merrik in Kiew erstanden hatte. Außerdem waren dort Zelte, Gerätschaften, Kochgeschirr und Proviant für die Heimfahrt verstaut. Der Alte Firren bediente das große, seitliche Steuerruder so gefühlvoll, wie eine Mutter ihr Kind führt und anleitet. Der Strom war tief, und Firren hielt das Steuerruder etwa einen halben Meter unter die Kiellinie. Das Rahsegel war hoch gespannt. Eine steife Brise trug sie rasch der Heimat zu. Dennoch saßen die Männer auf ihren Seekisten bereit, sofort loszurudern, und redeten wenig und mit gedämpften Stimmen. Sie befanden sich noch zu nahe an Kiew und bei den Menschen, die ihnen gnadenlos die Schädel spalten würden. Sobald der Wind sich legte, griffen sie blitzschnell nach den Rudern. Das Schiff war mit zweiundzwanzig Ruderlöchern versehen, doch Merrik hatte nur zwanzig Männer auf diese
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