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Der Herr der Welt

Der Herr der Welt

Titel: Der Herr der Welt
Autoren: Vampira VA
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mir doch stets neue, herrliche Perspektiven und stellt meine Fähigkeiten jedesmal aufs neue unter Beweis.
    Sie ist achtundzwanzig. Mein Gott, was bin ich heute gesegnet! Ganz im Gegensatz zum demoskopischen Durchschnitt scheint sich unsere kleine Stadt an diesem Morgen verjüngt zu haben. Oder verdanke ich diese Reihenfolge etwa Miss Stewards fürsorglicher Terminvergabe? Ich sagte es schon: Sie ist unersetzlich, und ich werde mir etwas überlegen müssen, um sie nicht zu verlieren.
    Mein Bauch knurrt. Ich habe Hunger. Hoffentlich erweist sich diese Gabrini als das, was ihre Akte verspricht.
    Die Tür öffnet sich, und sie tritt ein. Ich halte unwillkürlich den Atem an. Es ist die Frau von heute Morgen, die ich auf dem Friedhof beobachtet habe! Fast glaube ich zu sehen, daß ihr Mund sogar noch von Erde verschmiert ist. Engelsgleich schwebt sie in den Raum, eine ätherische, zarte Erscheinung, unirdisch, entrückt, ein Phänomen. Ich habe so etwas wie sie noch nie zuvor gesehen.
    Als sie ihre großen unschuldigen Augen auf mich richtet, habe ich den Eindruck, daß sie mich auf den ersten Blick durchschaut. Daß sie meine unlauteren Absichten sofort erkennt, daß sie wie ein offene Buch vor ihr liegen.
    Im Grunde meines Herzens will ich doch nur das Beste. Ich will geliebt werden und Liebe geben. Meine Gabe, ich habe sie nie wirklich mißbraucht. Ich habe nie jemandem ernstlich geschadet. Dafür habe ich tausendmal Trost gegeben. Die Kranken bedürfen meines Trostes. Indem ich ihre physischen Krankheiten sofort analysiere, kann ich viel mehr Zeit auf die psychische Behandlung meiner Patienten verwenden. Ich bin kein Wunderheiler, aber es ist kein Geheimnis, daß der Schlüssel zur Gesundheit in der Seele liegt.
    Laura Gabrini bleibt vor meinem Schreibtisch stehen. Er ist eine Barriere. Eine, die ich ganz bewußt installiert habe, weil sie meine Macht so augenfällig demonstriert.
    Jetzt verfluche ich diesen Schreibtisch, und wäre er ein Hund, so würde ich ihm jetzt einen Tritt verpassen. Sie nimmt den Schreibtisch als das zur Kenntnis, was er ist. Als Symbol meiner Gewalt, meiner Eitelkeit, meiner Ignoranz. Dabei steht er gleichermaßen für die andere Seite meines Selbst: Er ist mein Schutzwall, drückt meine Verletzlichkeit, meine Scheu, meine Schüchternheit aus. Vielleicht erkennt sie es.
    »Setzen Sie sich bitte«, sage ich. Ich lächle nicht. Sie würde erkennen, daß es falsch ist. Ich blättere in ihrem Anmeldebogen. »Was führt Sie hierher? Sie haben in der Spalte, was Ihnen fehlt, nichts eingetragen.«
    »Ich weiß es nicht«, sagt sie. Ihre Stimme gibt mir einen Teil meiner Selbstsicherheit wieder zurück. Nein, sie ist kein unirdischer En-gel.
    Sie spricht. Mit einer Stimme, in die man sich verlieben kann, aber durchaus irdisch.
    »Das wissen viele nicht. Dafür bin ich ja da«, antworte ich. »Auch wenn Sie den Namen Ihrer Krankheit nicht kennen, schildern Sie mir die Symptome.«
    Ich habe es zunächst meiner Faszination zugeschrieben, daß ich nicht wie sonst ihre Krankheit auf den ersten Blick diagnostizieren konnte. Ich spüre nichts, und doch bin ich sicher, daß sie sich ihre Krankheit nicht nur einbildet. Auch dafür habe ich einen Blick.
    Sie schaut mich wieder an, mit ihren großen Augen, die mich an tiefe, dunkle Teiche erinnern, in denen ich versinke. Ich reiße mich davon los, schwimme an die Oberfläche. Ihre Augenbrauen sind sorgfältig gezupft, ihr Mund dezent geschminkt.
    »Es ist eine lange Geschichte«, sagt sie schließlich.
    »Ich habe Zeit«, ermuntere ich sie.
    »Ich weiß nicht so recht, wo ich eigentlich anfangen soll .«
    Ich schaue auf das Anmeldeformular. »Sie sind nicht hier geboren.«
    »Nein, ich bin erst vor einem Jahr hierher gezogen. Auf der Suche nach meinem Mann .«
    Ich erinnere mich vage. Ihr Name kam mir gleich bekannt vor. So als hätte ich ihn schon einmal gehört. Die Zeitungen haben davon berichtet. Das örtliche Blatt hatte sich des mysteriösen Falles am ausführlichsten angenommen.
    Es passiert oft, daß in unserer kleinen Stadt Menschen verschwinden. Viel öfter als in manchen Großstädten. Ich weiß nicht, woran es liegt. In anderen Städten gibt es vielleicht einen abnorm hohen Prozentsatz an Blutkrebs bei Kindern oder eine auffällig hohe Rate an Abszessen. Auch in unserer Stadt gibt es typische Krankheiten, aber darüber hinaus, neben der auffälligen Häufung alter Leute, verschwinden eben auch immer wieder Menschen - Übrigens selten die alten,
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