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Der Heiler

Der Heiler

Titel: Der Heiler
Autoren: Antti Tuomainen
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gab und an der U-Bahnstation und dem halb verwaisten Einkaufszentrum vorbei auf die östliche Ausfallstraße fuhr. Er wich Schlaglöchern und Unebenheiten im Straßenbelag ebenso geübt aus wie all den Autofahrern, die riskant überholten oder ständig die Spur wechselten.
    Die Häuser am Ufer von Kulosaari waren, abgesehen von wenigen Ausnahmen, von ihren Besitzern verlassen und dann von Fremden in Beschlag genommen worden. Die früheren Bewohner waren in nördliche Regionen ­gezogen, wenn sie es sich leisten konnten: die wohlhabendsten nach Nordkanada, alle anderen in den Norden Finnlands und Schwedens oder ins norwegische Lappland. Im hohen Norden, sowohl im Landesinneren als auch unmittelbar an der Küste des Eismeeres, waren in den letzten Jahren Unmengen von streng abgeschirmten, privaten Kleinstädten entstanden, die über eine eigene geschlossene Kanalisation und ein ebensolches Stromnetz verfügten. Und natürlich über Hunderte bewaffneter Aufpasser, die unerwünschte Besucher fernhielten.
    Jetzt wohnten in den dunklen Häusern von Kulosaari hauptsächlich Flüchtlinge aus dem Osten und dem Süden Europas. Ein Band aus Lagerfeuern und Zelten umspannte das Ufer. Das Zusammenleben zwischen den verbliebenen alten Bewohnern, die hartnäckig ihre Häuser und Strände verteidigten, und den Flüchtlingen verlief nicht immer problemlos. Der Heiler hätte natürlich auch darüber seine eigenen Ansichten.
    Unterwegs sah ich mir die Videos der Nachrichtensendungen an, die in Johannas H-Ordner gespeichert waren. Je tagesaktueller sie waren, desto frustrierter wirkten die Journalisten mit ihren Fragen und desto müder die Polizisten mit ihren Antworten. Den Abschluss bildete der Kommentar des leitenden Kriminalbeamten, ein Mann mit rot unterlaufenen Augen: »Wir ermitteln weiter und teilen Ihnen mit, wenn es etwas mitzuteilen gibt.« Ich übertrug seinen Namen, der auf dem Bildschirm eingeblendet war, auf mein Handy und suchte mir die dazugehörige Nummer heraus. Kriminaloberkommissar Harri Jaatinen.
    Ich lehnte mich zurück.
    Wann hatte ich mit absoluter Sicherheit gewusst, dass Johanna etwas zugestoßen war? Als ich morgens um vier Uhr vom Gebell einer Hundemeute erwachte? Als ich mir zwei Stunden später Kaffee kochte, weil es besser war, aufzustehen als mühsam aufs erneute Einschlafen zu warten? Oder wurde aus der Vermutung Gewissheit während all der Stunden, in denen ich mechanisch meine Aufgaben verrichtete und im Minutenabstand auf das stumme Telefon blickte?
    Der junge Taxifahrer wusste genau, wo Straßen gesperrt waren, und wählte entsprechend seine Route. Bei der Langen Brücke hielten wir an der Kreuzung. Neben uns stoppte ein Geländewagen, dessen hinteres Fenster offen war. Ich zählte rasch die Insassen: acht junge Männer, deren ausdruckslose Gesichter, starre Blicke und tätowierte Hälse nicht nur auf die Zugehörigkeit zu einer Gang, sondern auch auf schwere Bewaffnung schließen ließen. Der Geländewagen schoss davon, ohne dass auch nur einer der Männer eine Miene verzog.
    Im Kaisaniemi-Park brannte es. Die Flammen schlugen so hoch, dass es sich um ein Auto oder etwas Ähnliches handeln musste. Ansonsten wirkte die massive Feuersäule im dunklen Park wie das Symbol eines heidnischen Festes. An der Ecke Vilhonkatu und Mikonkatu hörte ich Schüsse und sah drei Männer in Richtung Park rennen. Sie verschwanden, noch ehe die Schüsse verhallt waren. Vor dem Tierkundemuseum traten mehrere Männer auf ein am Boden liegendes Opfer ein, dann zerrte einer von ihnen, wahrscheinlich der Stärkste, das Opfer an seiner schmutzigen Kleidung in Richtung der Unterführung, vielleicht, um es in den Tunnel zu werfen.
    Wir waren innerhalb von zwanzig Minuten am Ziel, dem Temppeliaukio, dem Tempelplatz. Ich schob einen Geldschein durch den schmalen Schlitz in der Plexiglasscheibe und stieg aus.
    Die Kuppel der Felsenkirche war eingestürzt, so dass das Gebäude aussah wie ein Stück antike Mauer. Die Ruine warf lange Schatten auf den Felsen und die Lutherinkatu. Umrahmt vom gelblichen Schein der Straßenlampen wirkten die Schatten pechschwarz, wie auf die Erde gemalt. Irgendjemand hatte ein Parkverbotsschild aus der Verankerung gerissen und mitten auf die Straße geworfen. Das Schild wirkte, als würde es endgültig auf ­jedes Verbot verzichten.
    Die Nacht war hier in
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