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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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Sechs Monate lang fuhren wir nur an den Wochenenden in den Norden, arbeiteten wie besessen, machten einen Teil des Grundstücks urbar und bauten eine Ein-Zimmer-Hütte, in der wir schlafen konnten. Anfang Juni, ich war dreizehn, zogen wir endgültig in den Norden. Genauer gesagt, meine Mutter, Leif, Karen und ich, zusammen mit unseren beiden Pferden, unseren Katzen und Hunden und einer Kiste mit zehn Küken, die meine Mutter in einer Futterhandlung geschenkt bekommen hatte, als sie fünfundzwanzig Pfund Hühnerfutter kaufte. Eddie kam den ganzen Sommer über nur an den Wochenenden nach Norden und zog erst im Herbst nach. Sein Rücken war so weit wiederhergestellt, dass er in seinen Beruf zurückkehren konnte, und es war ihm gelungen, für die Hauptsaisoneine Stelle als Zimmermann zu ergattern, die zu gut bezahlt war, um sie aufzugeben.
    KarenCherylLeif waren wieder allein mit ihrer Mutter, so wie in den Jahren ihres Single-Daseins. In diesem Sommer waren wir praktisch rund um die Uhr zusammen und bekamen nur selten jemand anders zu sehen. Wir wohnten dreißig Kilometer von zwei Ortschaften entfernt, die in entgegengesetzten Richtungen lagen: Moose Lake im Osten, McGregor im Nordwesten. Im Herbst sollten wir in McGregor, mit vierhundert Einwohnern die kleinere der beiden, zur Schule gehen, aber den Sommer über waren wir, sah man einmal von gelegentlichen Besuchern ab – weit verstreut wohnenden Nachbarn, die auf einen Sprung vorbeischauten, um sich vorzustellen –, mit unserer Mutter allein. Wir stritten und redeten und dachten uns Witze und Spiele aus, um uns die Zeit zu vertreiben.
    Wer bin ich? war so ein Spiel. Wer dran war, musste sich eine Person ausdenken, jemand Berühmtes oder auch nicht, und die anderen mussten erraten, wer es war, indem sie ihn mit Fragen löcherten, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden durften: Bist du ein Mann? Bist du Amerikaner? Bist du tot? Bist du Charles Manson?
    Wir spielten es, während wir in dem Garten arbeiteten, der uns durch den Winter bringen sollte und dessen Boden jahrtausendelang sich selbst überlassen gewesen war, und während wir an dem Haus weiterbauten, das wir auf der anderen Seite des Grundstücks errichteten und bis Ende Sommer fertig zu haben hofften. Bei der Arbeit fielen Schwärme von Stechmücken über uns her, aber unsere Mutter verbot uns, Insektenschutzmittel oder andere Chemikalien zu benutzen, die das Gehirn schädigten, den Boden verseuchten und die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigten. Stattdessen mussten wir uns mit Flohkraut oder Pfefferminzöl einreiben. Abends machten wir uns dann einen Spaß daraus, bei Kerzenschein unsere Mückenstiche zu zählen. Dabei kamen wir auf Summen wie neunundsiebzig, sechsundachtzig oder einhundertdrei.
    »Eines Tages werdet ihr mir dafür dankbar sein«, erwiderte meine Mutter immer, wenn wir uns darüber beschwerten, was wir jetzt alles nicht mehr hatten. Wir hatten zwar nie im Luxus oder auch nur wie Leute aus der Mittelschicht gelebt, aber wir hatten nie auf die Annehmlichkeiten der Neuzeit verzichten müssen. Wir hatten immer einen Fernseher im Haus gehabt, ganz zu schweigen von einer Toilette mit Wasserspülung oder einem Wasserhahn, an dem man sich jederzeit ein Glas füllen konnte. In unserem neuen Leben als Pioniere war selbst die Befriedigung der simpelsten Bedürfnisse häufig mit einer Reihe mühsamer und zeitraubender Arbeiten verbunden. Unsere Küche bestand aus einem Campingkocher, einer Feuerstelle, einem altmodischen Eisschrank, den Eddie gebaut hatte und den man mit richtigem Eis befüllen musste, damit der Inhalt einigermaßen kühl blieb, einer separaten Spüle, die an der Außenwand der Hütte stand, und einem Wassereimer mit Deckel. Bei all diesen Utensilienüberstieg der Nutzen nur geringfügig den Aufwand. Man musste sie warten und instand halten, befüllen und entleeren, hochziehen und hinablassen, durch Pumpen und Kurbeln in Gang setzen, schüren und beaufsichtigen.
    Karen und ich teilten uns ein Hochbett, das so dicht unter die Decke gebaut war, dass wir uns gerade noch aufsetzen konnten. Leif schlief ein paar Meter entfernt in einem kleineren Hochbett und unsere Mutter darunter in einem normalen Bett, das Eddie an den Wochenenden mitbenutzte. Jede Nacht redeten wir uns gegenseitig in den Schlaf. Direkt über dem Bett, das ich mit Karen teilte, war ein Dachfenster in die Decke eingelassen. Die Scheibe war durchsichtig, sodass mir jede Nacht der fantastische Nachthimmel und seine
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