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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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KarenCherylLeif, die abwechselnd im Wagen vorn neben ihr sitzen durften.
    Wir lebten in einer Kleinstadt eine Autostunde außerhalb von Minneapolis, in einer Reihe von Wohnsiedlungen mit irreführend wohlklingenden Namen wie Mill Pond und Barbary Knoll, Tree Loft und Lake Grace Manor. Sie wechselte häufig die Jobs. Sie kellnerte in einem Lokal namens Norseman und dann in einem anderen namens Infinity, in dem sie bei der Arbeit ein schwarzes T-Shirt trug, auf dem quer über der Brust in glitzernden Regenbogen farben »Go for it« stand. Sie arbeitete tagsüber in einer Fabrik, die Kunststoffbehälter für hoch aggressive Chemikalien herstellte, und brachte Ausschussware mit nach Hause. Schalen und Dosen, die in der Maschine Risse oder Macken bekommen oder sich verzogen hatten. Wir bastelten uns Spielzeug daraus – Betten für unsere Puppen, Garagen für unsere Autos. Sie rackerte sich ab, und wir blieben trotzdem arm. Wir bekamen Käse, Milchpulver, Lebensmittelmarken und medizinische Beihilfen vom Staat, Weihnachtsgeschenke von privaten Spendern. Wir spielten Fangen, Ochs vorm Bergund Silbenrätsel neben den Wohnungsbriefkästen, die ständig auf Schecks warteten.
    »Wir sind nicht arm«, sagte meine Mutter immer wieder. »Denn wir sind reich an Liebe.« Sie rührte Lebensmittelfarbe in Zuckerwasser und tat so, als wäre es ein besonderes Getränk. Sarsaparilla, Orange Crush oder Limonade. Noch ein Glas gefällig, Madam?, fragte sie mit versnobtem britischem Akzent und brachte uns damit jedes Mal zum Lachen. Sie breitete weit die Arme aus und fragte uns, wie viel. Dieses Spiel ging nie zu Ende. Sie liebte uns mehr als die zehntausend Dinge der Welt. Sie war optimistisch und heiter, bis auf die wenigen Male, wenn sie die Beherrschung verlor und uns mit einem Holzlöffel den Hintern versohlte. Oder das eine Mal, als sie Scheiße! brüllte und weinend zusammenbrach, weil wir unser Zimmer nicht aufräumen wollten. Sie war gütig und nachsichtig, großzügig und naiv. Sie traf sich mit Männern, die Spitznamen hatten wie Killer, Doobie oder Motorcycle Dan, und mit einem Typ namens Victor, einem begeisterten Skifahrer. Wenn sie mit unserer Mutter allein in der Wohnung sein wollten, gaben sie uns immer fünf Dollar für Süßigkeiten.
    »Nach links und rechts schauen«, rief sie uns immer nach, wenn wir wie ein Rudel hungriger Wölfe losrannten zum nächsten Laden.
    Als sie Eddie kennenlernte, dachte ich nicht, dass es funktionieren würde, denn er war acht Jahre jünger als sie, aber sie verliebten sich trotzdem ineinander. Auch Karen, Leif und ich verliebten uns in ihn. Er war damals fünfundzwanzig, und siebenundzwanzig, als er unsere Mutter heiratete und versprach, uns ein Vater zu sein. Er war Zimmermann von Beruf und ein geschickter Handwerker, der alles konnte, alles selbst reparierte. Wir kehrten den Wohnsiedlungen mit den Fantasienamen den Rücken und zogen mit ihm zur Miete in ein baufälliges Farmhaus, das einen Keller mit Lehmfußboden hatte und außen in vier verschiedenen Farben gestrichen war. In dem Winter nach ihrer Hochzeit fiel Eddie bei der Arbeit vom Dach und brach sich das Kreuz. Ein Jahr später kauften er und meine Mom mit den zwölftausend Dollar, die er als Abfindung bekam, sechzehn Hektar Land in Aitkin County, anderthalb Autostunden westlich von Duluth, und legten das Geld bar auf den Tisch.
    Ein Haus gab es nicht. Auf dem Grundstück hatte nie ein Haus gestanden. Unsere sechzehn Hektar bildeten ein perfektes Quadrat mit Bäumen, Büschen, Wiesen und sumpfigen Weihern und Teichen mit Rohrkolben, die sich in nichts von den Bäumen, Büschen, Wiesen und Teichen im Umkreis von Kilometern unterschieden. In unseren ersten Monaten als Landbesitzer schritten wir mehrmals die Grenze des Grundstücks ab und bahnten uns einen Weg durch die Wildnis auf den beiden Seiten, die nicht an die Landstraße heranreichten, als könnten wir sie dadurch vom Rest der Welt abschotten und zu unserer machen. Und mit der Zeit gelang uns das auch. Bäume, die für mich anfangs wie alle anderen ausgesehen hatten, erkannte ich so leicht wie die Gesichter alter Freunde in einer Menge, denn ihre Äste und Blätter winkten mir plötzlich zu wie vertraute Hände. Grasbüschel und die Ränder der mittlerweile gut bekannten Sumpflöcher wurden Orientierungspunkte, Wegweiser, die jeder von uns lesen konnte.
    Wir sprachen immer von »oben im Norden«, solange wir noch in der Kleinstadt eine Stunde außerhalb von Minneapolis lebten.
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