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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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Flecken und Schrammen. Ich war in der Mojave-Wüste losgelaufen und fest entschlossen, nicht aufzugeben, bevor ich an der Grenze zwischen Oregon und Washington die Hand auf die Brücke legte, die sich dort über den Columbia River spannt und den grandiosen Namen »Brücke der Götter« trägt.
    Ich blickte nach Norden, in ihre Richtung – der bloße Gedanke an die Brücke war mir ein Ansporn. Ich blickte nach Süden, wo ich herkam, in das wilde Land, das mich vieles gelehrt und mich demütig gemacht hatte, und erwog meine Möglichkeiten. Mir war klar, dass es nur eine gab. Es gab immer nur eine.
    Weitergehen.

Teil Eins –
Die zehntausend Dinge
    Dass nicht den Einsturz
solcher Macht verkündet ein stärkres Krachen!
    William Shakespeare
Antonius und Cleopatra

1 –
Die zehntausend Dinge
    Meine dreimonatige Solowanderung auf dem Pacific Crest Trail hatte viele Anfänge. Da war zunächst der leichtfertige Entschluss, es zu tun, gefolgt von einem zweiten, ernsthafteren Entschluss, es wirklich zu tun, und dann der lange dritte Anfang, bestehend aus den Wochen, in denen ich einkaufte, packte und mich vorbereitete. Ich kündigte meinen Job als Kellnerin, verkaufte fast meine gesamte Habe, brachte meine Scheidung vollends über die Bühne, nahm Abschied von meinen Freunden und besuchte ein letztes Mal das Grab meiner Mutter. Ich fuhr quer durchs Land von Minneapolis nach Portland in Oregon, und ein paar Tage später flog ich nach Los Angeles. Von dort ließ ich mich in die Stadt Mojave chauffieren und weiter zu der Stelle, wo der PCT einen Highway kreuzte.
    Dann schließlich die tatsächliche Ausführung meines Vorhabens, rasch gefolgt von der bitteren Erkenntnis, was das bedeutete, und dem Entschluss aufzugeben, weil es lächerlich und idiotisch war und wahnsinnig schwierig, viel schwieriger, als ich erwartet hatte, und weil ich in keiner Weise darauf vorbereitet war.
    Und endlich diewirkliche und wahrhaftige Ausführung.
    Bleiben und weitermachen, trotz allem. Trotz der Bären, trotz der Klapperschlangen, trotz der Pumas, die ich selbst nie zu Gesicht bekam, nur ihre Exkremente. Trotz der Blasen und Schürfwunden, Kratzer und Schrammen. Trotz der Erschöpfung und der Entbehrungen. Trotz Hitze und Kälte, Eintönigkeit und Schmerzen, Hunger und Durst, trotz der Gespenster der Vergangenheit, die mich auf den tausendsechshundert Kilometern verfolgten, die ich im Alleingang von der Mojave-Wüste bis zum Bundesstaat Washington zurücklegte.
    Und schließlich, als ich es tatsächlich getan hatte, als ich losmarschiert war und Tag für Tag Kilometer um Kilometer zurücklegte, die Erkenntnis, dass das, was ich für den Anfang gehalten hatte, eigentlich gar nicht der Anfang gewesen war. Die Erkenntnis, dass meine Wanderung auf dem Pacific Crest Trail in Wahrheit nicht erst begonnen hatte, als ich mich spontan dazu entschloss. Sie hatte früher begonnen, noch bevor ich überhaupt daran dachte, nämlich genau vier Jahre, sieben Monate und drei Tage früher, als ich in einem kleinen Raum in der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, stand und erfuhr, dass meine Mutter sterben würde.
    Ich trug Grün. Grüne Hosen, grüne Bluse, grünes Band im Haar. Alles von meiner Mutter genäht – sie hatte mein Leben lang Sachen für mich geschneidert. Einige waren genau so, wie ich sie mir erträumt hatte, andere weniger. Ich war nicht allzu sehr versessen auf diesen grünen Hosenanzug, trug ihn aber trotzdem, als Buße, als Opfer, als Glücksbringer.
    In dem grünen Hosenanzug begleitete ich meine Mutter und meinen Stiefvater Eddie den ganzen Tag in der Mayo Clinic von Etage zu Etage, von einer Untersuchung zur nächsten. Und die ganze Zeit ging mir ein Gebet durch den Kopf, obwohl Gebet nicht ganz das richtige Wort ist. Ich war nicht gottesfürchtig. Ich glaubte nicht einmal an Gott. Mein Gebet lautete nicht: Bitte, lieber Gott, erbarme dich unser.
    Ich wollte nicht um Gnade bitten. Das hatte ich nicht nötig. Meine Mutter war fünfundvierzig. Sie sah gut aus, ernährte sich seit vielen Jahren vorwiegend vegetarisch. Sie hatte überall in ihrem Garten Ringelblumen gesät, um Schädlinge zu vertreiben, statt ihnen mit Insektiziden zu Leibe zu rücken. Meine Geschwister und ich mussten rohe Knoblauchzehen essen, wenn eine Erkältung im Anmarsch war. Menschen wie meine Mutter bekamen keinen Krebs. Die Untersuchungen in der Mayo Clinic würden das beweisen und die Diagnose der Ärzte in Duluth widerlegen. Davon war ich überzeugt. Wer waren
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