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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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diese Ärzte in Duluth denn schon? Was war Duluth? Duluth war ein kaltes Provinznest, in dem Ärzte, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten, behaupteten, fünfundvierzigjährige Nichtraucherinnen, die sich vegetarisch ernährten, rohen Knoblauch aßen und Naturkosmetik verwendeten, litten an Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium.
    Zum Teufel mit ihnen.
    Das war mein Gebet: Zum Teufel mit ihnen, zum Teufel mit ihnen.
    Und doch war meine Mutter in der Mayo Clinic jedes Mal völlig erschöpft, wenn sie länger als drei Minuten stehen musste.
    »Willst du einen Rollstuhl?«, fragte Eddie sie, als wir auf einem mit Teppichboden ausgelegten Flur an mehreren vorbeikamen.
    »Sie braucht keinen Rollstuhl«, sagte ich.
    »Nur für eine Minute«, sagte meine Mutter, ließ sich förmlich in einen hineinplumpsen und sah mich an, als Eddie sie zum Aufzug schob.
    Ich zuckelte hinterher, verbot mir jeden Gedanken. Wir waren auf dem Weg zu dem Gespräch mit dem letzten Arzt. Dem richtigen Arzt, wie wir ihn ständig nannten. Dem, der alles, was über meine Mutter zusammengetragen worden war, auf den Punkt bringen und uns sagen würde, was Sache war. Während der Aufzug nach oben schwebte, zupfte meine Mutter an meiner Hose und rieb stolz den grünen Baumwollstoff zwischen den Fingern.
    »Perfekt«, sagte sie.
    Ich war zweiundzwanzig, im selben Alter, in dem sie mit mir schwanger geworden war. Sie sollte im gleichen Augenblick aus meinem Leben scheiden, in dem ich in ihres getreten war, dachte ich. Aus irgendeinem Grund kam mir dieser Satz genau in diesem Moment vollständig ausformuliert in den Sinn und verdrängte vorübergehend das Zum Teufel mit ihnen. Ich heulte fast auf vor Schmerz. Ich erstickte fast an dem, was ich wusste, noch bevor ich es wusste. Ich sollte den Rest meines Lebens ohne meine Mutter verbringen. Ich schob diese Tatsache mit aller Macht beiseite. Ich durfte dort in dem Aufzug nicht daran glauben und trotzdem weiteratmen, also glaubte ich etwas anderes. Zum Beispiel, dass man in einen Raum mit einem glänzenden Holzschreibtisch geführt wird, wenn einem ein Arzt eröffnet, dass man bald sterben muss.
    So war es nicht.
    Wir wurden in ein Untersuchungszimmer geführt, in dem eine Schwester meine Mutter aufforderte, ihre Bluse abzulegen und einen Krankenhauskittel anzuziehen, an dem seitlich Schnüre herunterbaumelten. Als meine Mutter fertig war, kletterte sie auf einen mit weißem Papier bespannten Polstertisch. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, erfüllte das Knistern des Papiers den Raum. Ich sah ihren nackten Rücken, die leichte Rundung unterhalb der Taille. Sie würde nicht sterben. Ihr nackter Rücken schien das zu beweisen. Ich starrte ihn an, als der richtige Arzt in den Raum trat und uns mitteilte, dass meine Mutter bestenfalls noch ein Jahr zu leben hätte. Er erklärte, dass sie unheilbar krank sei und daher nicht behandelt werde. Man könne nichts für sie tun. Lungenkrebs werde häufig so spät entdeckt.
    »Aber sie ist Nichtraucherin«, entgegnete ich, als könnte ich ihm die Diagnose ausreden, als halte sich Krebs an vernünftige, verhandelbare Regeln. »Sie hat nur in ihrer Jugend geraucht. Seit Jahren hat sie keine Zigarette mehr angerührt.«
    Der Arzt schüttelte traurig den Kopf und fuhr fort. Er musste seiner Pflicht nachkommen. Man könne versuchen, sagte er, durch Bestrahlung die Schmerzen im Rücken zu lindern. Durch Bestrahlung lasse sich das Wachstum der Tumoren entlang der Wirbelsäule eventuell eindämmen.
    Ich weinte nicht. Ich atmete nur. Angestrengt. Ganz bewusst. Und vergaß dann zu atmen. Ich war einmal ohnmächtig geworden – als ich mit drei vor Wut die Luft anhielt, weil ich nicht aus der Badewanne steigen wollte. Ich war damals noch zu klein, um mich später daran zu erinnern. »Was hast du getan?« , fragte ich meine Mutter meine ganze Kindheit hindurch und ließ mirdie Geschichte immer wieder und wieder erzählen, erstaunt und begeistert über meinen unbändigen Willen. Sie habe die Hände ausgestreckt und zugesehen, wie ich blau angelaufen sei, erzählte meine Mutter dann immer. Sie habe gewartet, bis mein Kopf in ihre Hände gefallen sei. Dann hätte ich wieder geatmet und sei ins Leben zurückgekehrt.
    Atme.
    »Kann ich noch reiten?«, fragte meine Mutter den richtigen Arzt. Sie saß mit fest verschränkten Händen da, die Fußknöchel ineinandergehakt. An sich selbst gefesselt.
    Als Antwort nahm er einen Bleistift, stellte ihn aufrecht auf den Waschbeckenrand und
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