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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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Schmuddelig (das war falsch!)? Oder war es wörtlich gemeint und sollte bedeuten, er blieb den Leuten im Hals stecken und ließ sie würgen, so wie Stephanies Katze Sylph manchmal einen verfilzten Haarklumpen auf den Teppich würgte? Bennie hatte sich noch am selben Tag die Haare schneiden lassen und ernstlich mit dem Gedanken gespielt, Rücken und Oberarme einer Wachsbehandlung zu unterziehen, aber Stephanie hatte es ihm ausgeredet, sie war ihm nachts im Bett mit ihren kühlen Händen über die Schultern gestrichen und hatte ihm gesagt, sie liebe ihn so behaart – das Letzte, was die Welt brauche, sei noch so ein gewachster Typ.
    Musik. Bennie hörte echte Musik. Die Schwestern kreischten, der winzige Raum war ausgefüllt von ihrem Gesang, und Bennie versuchte, zu der tiefen Zufriedenheit zurückzufinden, die er gerade noch empfunden hatte. Aber der »fiese Filz« hatte ihn rausgerissen. Der Raum kam ihm unangenehm klein vor. Bennie legte die Kuhglocke hin und zog verstohlen den Strafzettel aus der Tasche. Er kritzelte fieser Filz darauf, in der Hoffnung, die Erinnerung damit zu vertreiben. Er holte tief Luft und ließ seine Blicke auf Chris ruhen, der wild auf das Tamburin einschlug, um den hektischen Tempowechseln der Schwestern zu folgen, und schon stand ihm wieder vor Augen, was ihm zwei Jahre zuvor mit seinem Sohn beim Haareschneiden passiert war. Sein langjähriger Friseur Stu hatte die Schere sinken lassen und Bennie beiseitegezogen. »Wir haben ein Problem mit den Haaren deines Sohnes«, hatte er gesagt.
    »Was für ein Problem?«
    Als Bennie dann zu Chris’ Sessel herübergekommen war, zeigte ihm Stu kleine, auf der Kopfhaut herumwuselnde braune Wesen in der Größe von Mohnsamen. Bennie merkte, wie ihm schwindlig wurde. »Läuse«, flüsterte der Friseur. »Die holen sie sich in der Schule.«
    »Aber er geht auf eine Privatschule«, hatte Bennie gerufen. »In Crandale, New York!«
    Chris’ Augen hatten sich vor Angst geweitet. »Was ist los, Daddy?« Andere Kunden starrten herüber, und Bennie hatte sich dermaßen verantwortlich gefühlt wegen seiner eigenen wilden Mähne, dass er sich bis heute jeden Morgen Autan unter die Achseln sprühte und sogar eine Ersatzdose im Büro aufbewahrte – der reinste Irrsinn, das war ihm klar. Die Erinnerung daran, wie er ihre Mäntel holte, während alle ihn ansahen, er selber mit brennendem Gesicht – Herrgott, er konnte es jetzt noch spüren –, tat Bennie physisch weh, als ob sie über ihn hinwegschrammte und dabei Wunden hinterließe. Er schlug die Hände vors Gesicht. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten und den Lärm von Stop/Go ausgesperrt, aber er konzentrierte sich auf Sasha gleich rechts von ihm, auf ihren herbsüßen Geruch, und er ertappte sich bei der Erinnerung an eine Frau, die er vor hundert Jahren auf einer Party angebaggert hatte, als er neu in New York gewesen war und auf der Lower East Side Platten verkauft hatte, irgendeine niedliche Blondine – Abby oder so ähnlich. Während er Abby im Auge behielt, hatte Bennie mehrere Lines gezogen, und sofort überfiel ihn ein dringendes Bedürfnis, seinen Darm zu entleeren. Auf dem Klo erleichterte er sich gerade in einem infernalischen Gestank, so musste es gewesen sein (obwohl Bennies Gehirn sich alle Mühe gab, die Erinnerung zu verdrängen), als die nicht verschließbare Tür zum Bad aufging. Abby stand da und starrte auf ihn herab. Es hatte eine entsetzliche, nicht enden wollende Sekunde gegeben, in der ihre Blicke sich begegnet waren – dann hatte sie die Tür wieder zugemacht.
    Bennie hatte die Party mit einer anderen verlassen – es gab immer noch eine andere –, und der nächtliche Spaß mit ihr, davon glaubte er jedenfalls ausgehen zu können, hatte die Szene mit Abby ausgelöscht. Aber jetzt war sie wieder da – und wie sie wieder da war, mit dermaßen riesigen Wellen der Scham, dass sie ganze Teile von Bennies Leben zu überfluten und mit sich zu reißen schienen: Leistungen, Erfolge, Momente des Triumphs, alles dem Erdboden gleichgemacht, bis nichts mehr da war – er war ein Nichts, ein Typ auf einem Klo, der ins angeekelte Gesicht der Frau hochschaute, die er hatte beeindrucken wollen.
    Bennie sprang von seinem Hocker auf und trat dabei auf die Kuhglocke. Schweiß brannte ihm in den Augen. Sein Haar verhedderte sich spürbar in dem Puschelfell an der Decke.
    »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Sasha beunruhigt.
    »Tut mir leid«, keuchte Bennie und wischte sich die Stirn.
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