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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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Drang, diesem Viertklässler von seinem Fauxpas zu erzählen. Dr. Beet nannte diesen Impuls Bekenntniszwang, und er hatte Bennie ermahnt, die Dinge, die er anderen anvertrauen wollte, aufzuschreiben, statt seinen Sohn damit zu belasten. Das tat Bennie jetzt, er kritzelte unerträglich auf die Rückseite eines Strafzettels, den er am Tag zuvor bekommen hatte. Dann fiel ihm die vorige Demütigung ein, und er setzte auch noch Die Nonne geküsst auf die Liste.
    »Also, Chef«, sagte er. »Wozu hast du denn Lust?«
    »Weiß nicht.«
    »Irgendein besonderer Wunsch?«
    »Eigentlich nicht.«
    Bennie schaute hilflos aus dem Fenster. Einige Monate zuvor hatte Chris gefragt, ob sie den wöchentlichen Termin bei Dr. Beet ausfallen lassen und den Nachmittag mit »egal was« verbringen könnten. Sie waren nie wieder hingefahren, eine Entscheidung, die Bennie jetzt bereute. »Egal was« hatte zu planlosen Nachmittagen geführt, die oft mit Chris’ Ankündigung, er müsse Hausaufgaben machen, abrupt endeten.
    »Wie wär’s mit einem Kaffee?«, schlug Bennie vor.
    Ein Lächeln blitzte auf. »Kann ich einen Frappuccino haben?«
    »Verrat deiner Mutter nichts.«
    Stephanie wollte nicht, dass Chris Kaffee trank – verständlich, immerhin war der Kleine erst neun –, aber Bennie konnte dem Zusammengehörigkeitsgefühl nicht widerstehen, wenn sie gemeinsam seiner Exfrau eins auswischten. Bindung durch Vertrauensmissbrauch, so nannte Dr. Beet das, und ebenso wie der Bekenntniszwang stand es auf der Liste der verbotenen Dinge.
    Sie holten sich den Kaffee und kehrten damit zum Porsche zurück. Chris nuckelte gierig an seinem Frappuccino. Bennie zog seine rote Emailledose hervor, nahm eine Prise Goldflocken und ließ sie unter den Plastikdeckel seines Bechers fallen.
    »Was ist das?«, fragte Chris.
    Bennie ließ den Motor an. Das Gold wurde dermaßen zur Gewohnheit, dass er es nicht mehr geheim hielt. »Ein Medikament«, sagte er nach kurzem Zögern.
    »Wogegen?«
    »Gegen ein paar Symptome.« Oder ausbleibende Symptome, fügte er in Gedanken hinzu.
    »Was für Symptome?«
    War das die Wirkung des Frappuccino? Chris hing jetzt nicht mehr auf dem Sitz, sondern saß aufrecht und schaute Bennie aus seinen großen, dunklen, einfach schönen Augen an. »Kopfschmerzen«, sagte Bennie.
    »Darf ich mal sehen?«, fragte Chris. »Das Medikament? In dem roten Dings?«
    Bennie reichte ihm die winzige Dose. In Sekundenschnelle hatte der Kleine den widerspenstigen Verschluss durchschaut und die Dose geöffnet. »Boah, Dad«, sagte er. »Was ist das denn?«
    »Hab ich dir doch gesagt.«
    »Das sieht aus wie Gold. Wie Goldflocken.«
    »Von der Konsistenz her sind es tatsächlich Flocken.«
    »Darf ich mal probieren?«
    »Nein, mein Lieber, du hast ja keine …«
    »Eine einzige nur?«
    Bennie seufzte. »Eine.«
    Der Junge nahm vorsichtig eine Goldflocke aus der Dose und legte sie sich auf die Zunge. »Und, wie schmeckt’s?« Bennie konnte sich die Frage nicht verkneifen. Er hatte das Gold nur in seinem Kaffee getrunken, und da ließ es sich nicht herausschmecken.
    »Wie Metall«, sagte Chris. »Ist ja irre. Kann ich noch eine haben?«
    Bennie startete den Motor. War die Geschichte mit dem Medikament wohl ein allzu durchsichtiger Vorwand? Es war klar, dass der Kleine sie ihm nicht abkaufte. »Eine noch«, sagte er. »Und damit Schluss.«
    Sein Sohn nahm eine große Prise goldene Flocken und legte sie sich auf die Zunge. Bennie versuchte nicht an das Geld zu denken. Tatsache war, dass er in den vergangenen zwei Monaten achttausend Dollar für Gold ausgegeben hatte. Koksen wäre ihn weniger teuer zu stehen gekommen.
    Chris lutschte am Gold herum und schloss die Augen. »Dad«, sagte er. »Das macht mich irgendwie ganz wach.«
    »Interessant«, sagte Bennie nachdenklich. »Das ist ja auch genau der Sinn der Sache.«
    »Funktioniert es?«
    »Hört sich so an.«
    »Ich meine, bei dir«, sagte Chris.
    Bennie war sich ziemlich sicher, dass sein Sohn ihm in den vergangenen zehn Minuten mehr Fragen gestellt hatte als in den gesamten anderthalb Jahren, seit er und Stephanie sich getrennt hatten. Konnte das eine Nebenwirkung des Goldes sein: Neugier?
    »Ich hab noch immer Kopfschmerzen«, sagte er.
    Er fuhr ziellos durch das Villenviertel Crandale (»egal was« führte zu einer Menge ziellosen Fahrens), wo vor jedem Haus vier oder fünf blonde Kinder in Ralph Lauren-Klamotten spielten. Wenn er diese Kinder ansah, war es Bennie klarer denn je, wie chancenlos er
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