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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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in Anbetracht des Verdachts, den er hegte. Verlegen versuchte er, Heqets Blick auszuweichen, und fügte hinzu: „Gebu hält nichts von der Goldarbeit. Er sieht keinen Sinn darin, mich bei Rekh in die Lehre zu geben.“
    „Warum nimmt er dich dann nicht selbst als Lehrjungen in seine Steinmetzwerkstatt, wenn er denkt, dass deine Arbeit dort mehr gebraucht wird?“
    „Ich weiß nicht, was Gebu denkt. Er will eben, dass ich hier arbeite.“
    „Ja, aber wenn du nun schon hier arbeitest, warum will er dann nicht – “
    „Lass mich in Ruhe!“, fuhr Ranofer ihn an. „Kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen? Ich habe genug von deiner Fragerei!“
    Er wandte sich brüsk ab. Mit dem Tuch in der Hand, das er um die Feilung drehte und wrang, tappte er drauflos und stolperte zum hinteren Ende des Hofes; dort verteilte er die Feilung auf einer sonnenwarmen Schafshaut zum Trocknen. Es tat ihm schrecklich Leid, dass er so grob zu dem neuen Lehrjungen gewesen war, der ihm doch nichts Böses wollte. Jetzt würde Heqet wieder denken, dass er ein Griesgram wäre, und würde ihn bestimmt nicht mehr zum Freund haben wollen. Er hatte schon einige Menschen vergrault. Wenn sie mich doch nur nicht immer ausfragen würden!, dachte Ranofer. Warum fragen sie mich immer nach Dingen, die ich vergessen will?
    Aber jetzt musste erst einmal die Feilung getrocknet und geschmolzen werden; es eilte, denn Ras Sonnebarke glitt immer tiefer zum Horizont. Wenn die glänzende Barke des Sonnengottes die Spitzen der Wüstenberge im Westen der Stadt berührte, war der Arbeitstag vorüber. Vorher musste er noch aus der Feilung einen Barren gießen, wie es der Erste Geselle befohlen hatte.
    Ranofer breitete ein trockenes Tuch über die glänzende Feilung und presste es mit der Hand auf die Schafshaut, um das Trocknen zu beschleunigen. Wie einfach wäre es, heimlich ein paar Goldreste in einen Weinschlauch zu stecken! Zugegeben, der Babylonier hatte selten mit der Feilung zu tun, und den kleinen Barren hatte er auch nicht gestohlen, wie Ranofer zuerst geargwöhnt hatte. Ibni hatte aber Zugang zum Lager und er wusch meist den ganzen Tag über in den großen Bottichen im Hinterhof Feingold, das direkt aus den Minen kam. Das war’s! Dort stahl Ibni das Gold – aus den Ledersäcken voller Goldklumpen, Erz und Sand, die jede Woche von den Goldfeldern der Nubischen Wüste gebracht wurden. Was war einfacher, als ein Quäntchen Goldstaub oder ein paar Goldklümpchen in einen Weinschlauch zu stecken statt in die Bottiche? Der Gewichtsunterschied konnte den Verunreinigungen zugeschrieben werden, die sich nicht präzise wiegen ließen, oder einer ungenauen Waage angelastet werden. Rekh und sein Waagemeister hatten aber einen ganzen Monat lang gebraucht, um herauszufinden, dass nicht die Waage daran schuld war.
    Mit schwerem Herzen füllte Ranofer die Feilung in einen Tiegel und setzte ihn aufs Kohlefeuer. Er musste mit Rekh sprechen. Aber…
    Grübelnd starrte er in die rot glühenden Flammen, die den Tiegel umspielten. Ibni zu verpfeifen fiele ihm leicht. Ranofer wäre nichts lieber, als den Babylonier von hinten zu sehen, und auch die ganze Werkstatt könnte froh sein, ihn loszuwerden. Aber wenn er Ibni verpfiff, musste er auch zugeben, dass er selbst all die Monate lang, die er nun schon hier arbeitete, regelmäßig alle zehn oder vierzehn Tage Gold aus der Werkstatt getragen hatte. Und nicht nur das – Ranofer lief es eiskalt den Rücken hinunter: Er müsste auch Gebu verraten. Großer Amun! Er würde mich umbringen!, dachte der Junge. Er würde mich umbringen und den Krokodilen zum Fraß vorwerfen! Oder er würde mich auf dem Sklavenmarkt verkaufen, wie er immer drohte… Das Gold verwandelte sich von einem Moment zum anderen in eine rot glühende Flüssigkeit. Ranofer nahm die Steine, die seine Hände vor dem heißen Tiegel schützten, und goss die Schmelze in die geölte Form. Das war gar nicht einfach; seine Hände zitterten so sehr, dass er alle Mühe hatte, nichts zu verschütten. Das alles ist nicht erwiesen, dachte er. Ich habe keine Beweise. Die brauche ich erst noch. Vielleicht bilde ich mir ja alles nur ein. Ich werde erst einmal nichts zu Rekh sagen.
    Als er sein Tagwerk getan hatte, lief er schnell aus der Werkstatt. Er konnte dem netten Goldschmied nicht in die Augen sehen.

2
     
     
     
    Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als Ranofer Rekhs Goldhaus verließ und die Straße der Goldschmiede hinunter zum Nil lief. Hinter ihm färbte
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