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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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gravieren, auch die Kelche würden andere treiben. Und alles nur wegen Gebu! Warum darf ich nicht Lehrjunge sein?, fragte sich Ranofer zum hundertsten Mal. Weil Gebu es nicht will! Aber warum will er es denn nicht? Dieses Schwein! Sohn des Seth, Sohn des Teufels! Warum soll ich hier in diesem Goldhaus arbeiten, wo ich doch sowieso nichts lernen darf?
    Vergeblich. Es war sinnlos, die Wege dieses verfluchten Gebu ergründen zu wollen. Die kannte nur Gebu allein, und Widerreden brachten nur Prügel ein, das wusste Ranofer seit langem. Hier war sein Platz und hier würde er bleiben, bis Gebu etwas anderes befahl. Der Barren war nun so weit ausgekühlt, dass Ranofer ihn anfassen konnte; er trug ihn zur nächsten Werkbank, wo die Ziehplatte stand. Das war eine runde Scheibe aus Stein, die in einen Schraubstock eingespannt und rundherum mit Löchern verschiedenen Durchmessers versehen war. An der Platte stand ein Lehrjunge und zog Draht; er quetschte einen eingefetteten Barren von der Dicke eines Schilfrohrs mit aller Kraft durch ein enges Loch, dass seine Muskeln an Oberarmen und Schultern vor Anstrengung hervortraten. Nun war der Barren dünner und länger. Der Reihe nach zog er ihn durch das jeweils nächst kleinere Loch, wobei der Barren immer länger und dünner geriet, bis schließlich ein Draht daraus wurde. Auf der Werkbank lag auch eine Rolle fertigen Drahtes für die letzte Härtung. Daneben lagen drei kleine Barren, die darauf warteten, zu Draht verarbeitet zu werden. Ranofer legte seinen Barren dazu; es war der dünnste von allen. Vielleicht würde er am Abend schon zu Draht gezogen sein, gerundet, gehärtet und bereit, zu einer Halskette für eine schöne Dame geschmiedet zu werden. Dieser Gedanke tröstete Ranofer einigermaßen, und er ging zurück zu seiner leeren Gussform, um sie zu ölen.
    Zu spät sah er, wie eine krumme Gestalt, die er nur zu gut kannte, durch die Hintertür gleich neben der Gussbank die Werkstatt betrat: Ibni, der Gehilfe aus Babylon. Als er Ranofers sah, fing er an zu grinsen und grüßend mit dem Kopf zu nicken. Ranofer wünschte, Rekh würde Ibni sofort auf einen Botengang ans andere Ende von Theben schicken. Er drehte dem Mann den Rücken zu und griff nach der Ölkanne. Aber Ibni kam näher; er zog den Kopf noch tiefer zwischen seine Schultern und rieb sich schmeichlerisch die Hände.
    „Sei gegrüßt! Wie geht es dem kleinen Ranofer denn heute?“, fragte Ibni. Seine Stimme klang wie eine schlecht geschnitzte Flöte; sein babylonischer Akzent mit den ausgeprägten Zischlauten war unverkennbar. „Ganz gut“, murmelte Ranofer.
    „So, so! Das freut meine Nichtswürdigkeit aber! Und meinem verehrten Freund Gebu, dem Steinmetz, deinem Halbbruder und Vormund – geht es ihm auch gut?“
    „Ja.“ Ranofer heftete seinen mürrischen Blick fest auf die Gussform, die er gerade ölte. Er konnte nicht sagen, warum er so eine große Abneigung gegen Ibni empfand. Die Unterwürfigkeit dieses Mannes stieß ihn ab, seine käsigen Hände mit den schmutzigen Fingernägeln und die gelben Zähne, die er bei seinem ständigen Grinsen entblößte, ekelten ihn an. Doch das war nicht alles: Der Babylonier hatte etwas Schleimiges, Verschlagenes an sich, das Ranofer schaudern machte. Warum Gebu diesen Ibni gelegentlich in seinem Haus empfing, war ein Geheimnis, das Ranofer lieber nicht aufzudecken versuchte. Gebu und Ibni waren sicherlich keine Freunde, sie waren eher wie Herr und Hund. „Sag, Ranofer, hat sich der ehrenwerte Gebu über den Dattelwein gefreut, den ich ihm letzte Woche zukommen ließ? Fand er ihn so wohlschmeckend wie immer?“
    „Er hat jedenfalls nicht das Gegenteil gesagt.“
    „Was hat er denn gesagt, Kleiner? Hat er gar nichts gesagt, als du ihm den Weinschlauch gabst? Du hast ihn doch abgegeben, oder? Du hast ihm doch wie immer den Wein persönlich gegeben?“
    „Ja. Persönlich. Wie immer.“
    Ranofer warf Ibni einen ungeduldigen Blick zu. Da sah er den funkelnden Schimmer, der ihn schon immer in Ibnis sonst ausdruckslosen Augen erstaunt hatte. Das Funkeln erlosch sofort, und der Babylonier grinste breit übers ganze Gesicht. Ranofers Argwohn wuchs. Was will dieser Kriecher, diese falsche Schlange eigentlich von mir?, dachte er, aber er sagte nur: „Woher soll ich nach neun Tagen noch wissen, was er gesagt hat?“
    „Ja, ja, spielt ja auch keine Rolle. Mein armseliges Geschenk ist sicher keines Kommentars wert, auch wenn Gebu mir die Ehre machte, ihn wohlschmeckend zu finden.
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