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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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sich der Himmel rot über der Silhouette des Wüstengebirges, dem Tor zum Ehrfurcht gebietenden Tal der Könige. Direkt vor ihm auf der anderen Seite des Flusses, auf dem sich leuchtende, viereckige Segel bauschten, erhob sich das Ostufer und die andere Hälfte der altehrwürdigen Stadt Theben. Hohe Tore, Tempel, Dächer und dicke, weiß gekalkte Mauern, die geschäftige Straßen säumten, standen in allen Winkeln gegen den Himmel.
    Die Stadt auf der Ostseite des Flusses war für Ranofer eine andere Welt. Das Westufer von Theben kannte er: Es war die „Totenstadt“, eine große, bunte Ansammlung von Werkstätten, Schuppen und Arbeitshäusern. Die niedrigen, dicht aneinander gebauten Häuser aus luftgetrockneten Lehmziegeln bildeten einen breiten Gürtel zwischen dem grünen Fruchtland am Ufer und dem Wüstenstreifen am Fuße des Felsengebirges im Westen; im Norden zog sich die Siedlung fast bis zur Felswand hinauf, im Süden reichte sie bis an die hohen Mauern vor den Gärten der vornehmen Villen, die sich um den Platz vor dem Pharaonenpalast mit dem blendend weißen Obelisk drängten.
    Von der Straße der Goldschmiede bog Ranofer in die Hauptstraße ein; dort hatten sich die Hitze des Tages und allerlei Gerüche gestaut. Es wimmelte nur so von Menschen aus allen Teilen der Nekropole; Handwerker, Arbeiter und Lehrjungen erfüllten die Luft mit kehligen Lauten. Ihre glatt rasierte Haut hatte die Farbe von mattem Kupfer. Zum Schutz vor der stechenden Sonne waren die Augenlider mit schwarzer Schminke umrandet, der Strich fast bis an die Schläfen gezogen. Die Männer hatten breite, nackte Schultern, um die schmalen Hüften trugen sie blendend weiße Schendjtiu aus Baumwolle. Sie gestikulierten, spielten mit ihren Amuletten oder ließen einfach die Arme baumeln. Die kräftigen, geschmeidigen Hände dieser Männer waren die geschicktesten auf der ganzen Welt, es waren die Hände der Glasbläser, Papierschläger, Weber, Zimmerleute, Töpfer, Bildhauer, Maler, Balsamierer, Maurer und Sargtischler der hunderttorigen Stadt Theben, der Mitte der Welt. Diese Handwerker erfüllten die Stadt mit Leben und Lachen, trotzdem nannte man die Weststadt ihretwegen „Totenstadt“. Die meisten Gegenstände, die sie mit großer Geschicklichkeit fertigten, verschwanden nämlich in den Gräbern ganz Ägyptens und gingen in den Besitz der Toten über. Selbst ein Fischer von niederem Stand wurde nicht ohne ein Mahl zur ewigen Ruhe gebettet, nicht ohne ein kleines Möbelstück, eine Bahn neuen Leinenstoffes, eine Perlenschnur, seine Waffen oder Werkzeuge – was auch immer die Angehörigen dem Ba des geliebten Menschen für den Antritt der Dreitausend Jahre im Schönen Westen zur Verfügung stellen konnten. Die Gräber der Reichen waren unterirdische Villen voller goldener Schätze. Der Tod schuf einen sicheren Markt für die Erzeugnisse der Nekropole, aber natürlich kauften auch die Lebenden dort ein. In den vielen Werkstätten herrschte Tag für Tag emsiges Treiben. Das Tagwerk war nun getan, die Männer waren auf dem Heimweg. Manche gingen zum Fluss, wo sie mit Fährbooten, deren Bug weit nach oben ragte, auf die Ostseite der Stadt übersetzten, die meisten aber bogen in die eine oder andere Straße und Gasse der Totenstadt ein, wo sie in der Nähe ihrer Werkstätten wohnten. Auch Ranofer wohnte in der Nekropole, aber er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Im Gegenteil – je näher er seiner Straße kam, desto träger wurde sein Schritt. Ehrlich gesagt, wäre er überall lieber hingegangen als nach Hause. Gerade an diesem Abend graute es ihm mit ganzer Seele vor dem Nachhausekommen. Er wusste nie, was ihn am Abend erwartete, ob Gebu laut und ausgelassen war oder schweigsam und grimmig; zwischen diesen beiden Extremen gab es nichts, das wusste Ranofer schon lange. Gebu kickte ihn entweder wie ein Stück Dreck in eine Ecke oder er nahm gründlich und in ausfallendem Ton von ihm Notiz; die Frage war, was Ranofer lieber war. Aber wie Gebu heute auch immer gelaunt sein mochte – Ranofer fühlte sich nicht in der Lage, ihm gegenüberzutreten und seinen Verdacht vor ihm zu verbergen; was er dagegen tun konnte, wusste er allerdings auch nicht.
    Vor der letzten Ecke wurde er noch langsamer und blieb schließlich stehen. Nach einer kleinen Weile machte er einen unentschlossenen Schritt zurück, dann aber drehte er sich blitzschnell um und rannte auf einem Weg zwischen zwei Blumenfeldern zum Fluss hinunter. Er musste nachdenken. Er
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