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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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war es nun schon dunkel. Dieses Mal hielt Ranofer nicht vor der letzten Ecke an. Er biss die Zähne zusammen und lief in die Straße zum Krummen Hund, eine enge, schmutzige Gasse, wo die Häuser so dicht nebeneinander standen, dass sie zu beiden Straßenseiten eine durchgehende Mauer bildeten wie in einer kleinen Schlucht. Ranofer stieß die dritte Tür auf der linken Seite auf und schlüpfte in den Hof. Seine nackten Füße machten kein Geräusch auf dem rauen Pflaster. Er schloss das Tor hinter sich, blieb stehen und sah sich vorsichtig um.
    Im schwachen Dämmerlicht sah der winzige, ummauerte Hof fast einladend aus. Es beschien zwar hier und da den Müll, der überall auf dem Hof herumlag, verbarg aber die kleinen Risse und den abgeblätterten Putz des kleinen Hauses aus Lehmziegeln, das an der Westseite des Grundstücks stand. Die Vorratskammern im Erdgeschoss waren dunkel und leer, die Türen nur angelehnt. Am hinteren Ende des Hofes führte eine Stiege über die Kammern hinauf zu einem einzelnen Raum, der bis vorne zur Straße ging. Aus den Öffnungen unterhalb des Daches drang gelber Fackelschein. Ranofer sah hinauf. Gebu war zu Hause.
    Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und atmete tief ein. Dann tappte er über den Hof zu den Vorratskammern. Vielleicht würde er etwas zu essen finden, bevor –
    Die quietschende Tür verriet ihn.
    „Wer ist da?“, drang die brummige Stimme des Steinmetz aus dem oberen Zimmer. „Bist du das, Nichtsnutz? Komm zur Stiege!“
    Ranofer drehte sich um. Sein Halbbruder stand mit einer Fackel in der Hand auf dem Stiegenabsatz. Wie es schien, war er heute alles andere als ausgelassen. Ich muss es ihm jetzt gleich sagen, dachte Ranofer. Ich muss ihm drohen.
    „Du kommst spät. Sehr spät!“, sagte Gebu barsch. „Wo warst du?“
    „In… in der Werkstatt.“
    „Bis jetzt?“
    „Ich habe mich verspätet. Ich musste noch einen Barren…“ Ranofer versagte die Stimme, als Gebu die Stiege herunterkam. Die Fackel steckte er auf halbem Weg in eine Halterung. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er sah aus wie eine Figur, die man aus einem Steinblock gehauen hatte. Seine Beine waren dicke Säulen, sein Gesicht ein schroffer Fels mit einem Kinn so hart wie Granit und die Augen unter den bemalten Lidern waren so schwarz wie Obsidianstücke. Ein Auge blinzelte immer wieder krampfartig und verlieh dem sonst unbewegten Gesicht eine gespenstische Lebendigkeit. Gebu hatte den Fuß der Stiege erreicht. Blinzelnd baute er sich in seiner ganzen Größe und Fülle vor dem schmächtigen Jungen auf.
    Ranofer kam sich vor wie ein Zwerg; er fuhr noch einmal mit der Zunge über die Lippen. Ich muss es ihm sagen!, dachte er, aber er sagte nur: „Ich… ich habe auf dem Heimweg noch einen Abstecher zum Fluss gemacht, um meine Füße im Schlamm zu kühlen. Hier – ich habe eine Blume gepflückt!“ Er nestelte an seinem Gürtelband und zog die welke Blüte aus einer Falte. Der Steinmetz sah erst auf die Blüte, dann auf Ranofer. Plötzlich krachte eine steinharte Faust auf Ranofers Wange und streckte ihn zu Boden. „Lump! Du lügst! Wo warst du? Mit wem hast du gesprochen?“
    „Mit niemandem, ich schwör’s!“, rief Ranofer. „Ich habe nur zufällig einen alten Sumpfarbeiter mit seinem Esel am Fluss getroffen.“
    „Du lügst.“
    „Aber nein! Es ist die Wahrheit – Maat ist meine Zeugin!“ Ranofer wich Gebus Tritt aus und rappelte sich auf, fiel aber wieder gegen die Mauer. Wenn er noch einen weiteren Beweis dafür gebraucht hatte, dass sein Verdacht begründet war, so hatte er ihn nun in Form von Gebus entsetzlichem Misstrauen bekommen. Ranofer rieb sich die Wange. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich habe niemandem von den Weinschläuchen und ihrem Inhalt erzählt. Noch nicht!“, platzte er zornig heraus und war im selben Moment verblüfft über seine Kühnheit.
    Gebu war gefährlich still geworden. „Was du nicht sagst!“, säuselte er. „Was ist denn außer Wein in den Weinschläuchen?“
    „Das weißt du sehr gut, genauso gut wie Ibni! Nur ich wusste davon bis heute nichts.“ Gebu machte einen Schritt auf Ranofer zu und beugte sich hinunter, bis er Auge in Auge mit Ranofer war. „Was weißt du?“
    Ranofer schluckte. In dem vergeblichen Versuch, Gebu zu entkommen, drückte er sich gegen die Wand. Nichts wusste er – jedenfalls hatte er keine Beweise. „Ich weiß, dass aus der Werkstatt Gold verschwindet“, sagte er dennoch. „Und dabei wird selbst die Feilung
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