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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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bloß auf, dass ich dich nicht bei einem Fischhändler in die Lehre gebe, du undankbarer Einfaltspinsel! Ich hätte dich auch in meiner Steinmetzwerkstatt einstellen können. Warum wohl habe ich das nicht getan? Weil ich dachte, dass es dir im Goldhaus besser gefällt. Das stimmt doch, oder? Und wer hat dich zu Rekh gebracht? Ich!“
    „Nur, um dir beim Stehlen zu helfen“, murmelte Ranofer.
    „Pass auf, was du sagst!“ Gebu hob die Hand. Mit der anderen Hand stieß er Ranofer harsch gegen die Mauer. Ranofer hielt die Luft an, kniff die Augen zusammen und blinzelte in Erwartung des Schlages. Gebu drückte ihn so heftig gegen die groben Ziegel, dass die Kanten in seinen Rücken schnitten. Gebu ballte langsam seine Faust. Ranofers Nerven und Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, ihm war ganz schlecht vor Angst. Dann ließ Gebu den Arm sinken und trat einen Schritt zurück. Der Junge fiel wie ein Sack auf den Boden, er war in Angstschweiß gebadet.
    „Schau dich doch an!“, höhnte Gebu. „Wie ein erbärmlicher Wurm liegst du da! Kannst du denn nicht aufstehen, wenn ich mit dir rede?“ Ranofer richtete sich auf, ihm war übel von so viel Erniedrigung. Dieser verfluchte Gebu! Wie ich ihn hasse, hasse, hasse! Er macht nicht nur einen Dieb aus mir, sondern auch noch eine Memme! „Ich bin nur hungrig.“
    „Hungrig! Immer bist du hungrig! Du hättest dir ein paar Lotoswurzeln ausgraben können, während du dich unten am Fluss rumgetrieben hast. Mehr haben andere Rotznasen auch nicht zu essen, und mehr brauchen sie auch nicht.“
    Normalerweise wäre das noch eine Weile so weitergegangen, aber Gebu war es offenbar müde geworden, Ranofer zu piesacken. Er grummelte nur noch bärbeißig vor sich hin, holte die Fackel aus der Halterung und ging mit großen Schritten über den Hof. Ranofer folgte ihm schweigend, an Körper und Seele gleichermaßen erschöpft.
    Aus der Vorratskammer holte Gebu einen kleinen Fladen. Ranofer streckte die Hand aus, aber Gebu zog den Fladen zurück. „Sollst du mir heute etwas vom Babylonier bestellen?“
    Müde durchforstete Ranofer sein Gedächtnis. „Ja. Er will dir morgen Wein schicken.“
    „Gut.“ Gebu heftete seinen Blick fest auf Ranofer, sein Augenlid flackerte. „Du wirst mir den Wein bringen, ist das klar?“
    Gebu brach das Brot, gab Ranofer die Hälfte und stopfte sich die andere Hälfte selbst in den Mund. „Ich erwarte Freunde“, sagte er schmatzend. „Öffne das Tor, wenn sie kommen.“
    Seine Augen funkelten bedrohlich. Er ging zur Stiege, die Fackel nahm er mit.
    Mit dem Stück Brot in der Hand blieb Ranofer alleine im dunklen Hof zurück. Der halbe Fladen füllte gerade seine hohle Hand. Das Loch in seinem Magen und die Einsamkeit in seinem Herzen waren so groß wie der Amuntempel. Gebus Warnung war unmissverständlich. Erschöpft schleppte er sich zur Vorratskammer und tastete sich zu dem großen Wasserkrug, um seinen Durst zu stillen. Dann suchte er ohne große Hoffnung nach irgendetwas Essbarem, eine vergessene Zwiebel oder eine Hand voll gedünsteter Linsen, die von Gebus Abendessen übrig geblieben waren. Aber die Vorratskammer hatte nicht mehr zu bieten als den verlockenden Duft aus versiegelten Kisten und Fässern, die Ranofer nicht anrühren durfte.
    Er ging in die hinterste Ecke des Hofes. Dort lag unter einer knorrigen Akazie seine Schlafmatte. Er setzte sich auf die groben Fasern und roch an dem Fladen. Der Hefeduft ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er biss hinein; jeden Bissen kaute er langsam und bedächtig, so lange es ging.
    Aber der halbe Fladen war bald aufgegessen, und er hatte nur noch mehr Hunger bekommen. Er streckte sich aus und schob die Arme wie ein Kissen unter den Kopf. Er hätte mir wirklich den ganzen Fladen geben können, dachte er, die Fladen sind sowieso so klein. Ich könnte zwanzig, ja, dreißig davon essen! Gebu, dieses Schwein, will mich dafür bestrafen, dass ich ihm die Stirn bieten wollte. Ach, wenn ich doch nur frei wäre! Wenn ich einfach an Bord eines Bootes gehen und weit, weit weg segeln könnte und diesen Hof und die Straße zum Krummen Hund in meinem ganzen Leben nie mehr wieder sehen müsste! Ich könnte es ja versuchen, ich könnte morgen weglaufen…
    Aber da war auch schon wieder die alte Angst: Und was dann? Was tun? Wovon leben?
    Unmöglich! Er wollte nicht daran denken. Er dachte lieber an jenen Tag, an dem er ein Mann sein würde. Dann würde er selbst Gold besitzen und könnte sich so viel Brot
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