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Der Glanzrappe

Der Glanzrappe

Titel: Der Glanzrappe
Autoren: Unknown
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zupfte an den Ärmeln und zog an den Knöpfen, um die Jacke über der Brust schließen zu können.
    Seine Mutter meinte, er sei ganz schön in die Höhe geschossen, als wäre das etwas Rätselhaftes. Auf seinen Wangen erschienen rote Flecken, als er aus ihrer Stimme die Zärtlichkeit einer Mutter heraushörte, doch sie blieb reserviert und änderte ihre Meinung nicht, schlug auch nicht vor, daß er erst noch essen und schlafen und sich bei Tagesanbruch auf den Weg machen solle.
    Nach einer langen, gefaßten Pause richtete sie den Blick auf ihn, schenkte ihm aber kein Lächeln. Sie reckte sich, und er beugte sich zu ihr hinab. Zögernd berührte sie sein Gesicht und strich ihm sanft über die Wange und den Hals, wie eine Blinde, die mit den Fingern sieht. Als sie einen Knopf in die Hand nahm und daran zog, hatte er das Gefühl, sie würde ihm etwas aus der Brust herausziehen.
    In diesem Augenblick wurde ihm klar, wie traurig und sinnlos seine Reise sein würde. Seine Mutter schickte ihn dem eigenen Tod entgegen. Sie sah das sicher genauso, und doch konnte sie nicht anders. Selbst wenn er wiederkäme, würde sie sich nie verzeihen, daß sie das Leben ihres Sohnes aufs Spiel gesetzt hatte, um das des Vaters zu retten.
    »Zieh die Jacke wieder aus«, entschied sie sich anders und half ihm, sie aufzuknöpfen und von den Schultern zu streifen. »Bleib ein Junge, so lange es geht. Das ist eh nicht mehr lange. Zieh sie an, wenn du merkst, daß es soweit ist.«
    »Ja, Mutter.«
    »Du wirst nicht sterben«, sagte sie, aber ihr Gesichtsausdruck blieb düster.
    »Nein, Mutter.«
    »Du wirst zurückkommen. «
    P lötzlich glänzten ihre Augen wieder, als sähe sie hinüber in ein anderes Leben.
    »Ja, Mutter, ich werde zurückkommen«, sagte er, den Blick durch die offene Tür hinaus ins Schwarze gerichtet.
    »Versprich es mir«, sagte sie und zwang ihn zur Aufmerksamkeit.
    »Ich verspreche es.«
    »Dann warte ich hier auf dich«, sagte sie und hob die andere Hand an sein Gesicht, zog es an sich und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen.
    Dieser Kuß war der einzige Augenblick, in dem sie Zweifel an dem bekam, was sie von ihm verlangte. Es war, als hätte jemand seine segnende Hand auf sie gelegt. Er wartete darauf, daß sie noch etwas sagte, doch sie blieb stumm. Er spürte, wie ihre Tränen sein Gesicht benetzten.
    Sie gab ihm einen weiteren, dringlicheren Kuß, und beide wußten, daß sie ihn jetzt gehen lassen mußte, und dann ließ sie ihn gehen. Er trat zur Seite, winkte ihr ein letztes Mal zu und ging zur Tür hinaus.
    Draußen, in der wohltuend kühlen Bergluft, wandelte sich der Abend bereits zur Nacht. Die Berührung der Mutter lag noch wärmend auf seinem Hals, seine Lippen waren noch heiß von ihrem Kuß. Er zäumte ein stämmiges graues Pferd mit perlmuttfarbenen Augen, legte den Sattel auf und ritt davon, hinaus in das Dunkel, das die Copperhead Road einhüllte. Bei einem Blick zurück hätte er nicht seine Mutter gesehen, sondern die Hunde, die in der offenen Tür saßen und kaum wahrnehmbar ruhig und gleichmäßig atmeten.
    Es dauerte die halbe Nacht, bis er sein Zuhause, die hohe Wiese und die alten Felder hinter sich gelassen hatte und hinabritt durch das hügelige Land in die kalte feuchte Talsenke und weiter durch die nächtlichen Flußnebel. Die Bäume und Felsvorsprünge, unter denen er durchritt, verdeckten das Licht der Sterne. Die Nacht war ungewöhnlich still, und das Licht des Mondes, der immer wieder hinter den dahintreibenden Wolken verschwand, wirkte unheimlich. Doch wenn das Mondlicht durchdrang und die Mulden erhellte, war Robey eine Zeitlang in weißes Licht gebadet, und das Gestein um ihn sah aus wie Spiegelglas. Dann war es so hell, daß er die Linien in seiner Hand und die Rillen auf den Fingerkuppen erkennen konnte.
    Er war noch ein Junge, und wie alle Jungen war er fasziniert davon, wie das Licht ins Dunkel eindringt, wie das Wasser friert und das Eis schmilzt, wie das Leben weg s ein kann und auf einen Schlag wieder da. Wie manche Dinge jahrelang da sind, ohne je zu existieren. Er dachte, wenn die Welt wirklich rund war, dann stand er immer genau in der Mitte. Er dachte, jetzt wird der Frühling zum Sommer, und ich reite nach Süden, dem Sommer entgegen. Er dachte, daß sein Vater immer gern gereist war, und auch er hatte schon als Kind davon geträumt, unterwegs zu sein, und jetzt war er unterwegs, unterwegs ins Ungewisse.
    Er ließ die freie Hand durchs Dunkel schwingen, hob sie hoch zum
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