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Der Gipfel

Der Gipfel

Titel: Der Gipfel
Autoren: Anatoli Boukreev , G. Weston DeWalt
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ohnehin nie ein strenger Dogmatiker. Es erwies sich 1996 als großes Problem, daß niemand, weder Führer noch Kunde, ohne Sauerstoff richtig funktionierte, eine Tatsache, die das Gefahrenpotential erhöh te.
    Der erste Beweggrund war meine Gesundheit. 1996 hatte ich im Herbst und Winter erfolgreich drei Achttausender bestiegen und im ersten Vierteljahr ein anstrengendes Trainingsprogramm bewältigt. Vor der Saison 1997 hatte ich jedoch einen schweren Unfall, dessen Folgen mich an meinen Reaktionen in extremer Höhe zweifeln ließen. In den Wintermonaten vor der indonesischen Expedition war mein Trainingsprogramm ganz anders abgelaufen als im Vorjahr. Ich mußte mich von einigen Operationen erholen und verbrachte viel Zeit, die Einzelheiten der Expedition zu organisieren. Ich spürte deutlich, daß ich weniger Kraftreserven hatte als im Jahr zuvor. In der Woche vor dem Aufstieg hatte mir ein Zahn zu schaffen gemacht, der mir gezogen wurde, ein Eingriff, von dem ich mich noch erholte, als wir zum Gipfel aufbrachen.
    Der zweite Grund ergab sich aus dem Akklimatisationsprogramm der Expedition. 1996 arbeitete ich bis zum Südgipfel und befestigte tagelang ohne Sauerstoffhilfe die Seile. In diesem Jahr konnten wir wegen des Arbeitskräftemangels in unserem Sherpa-Team nicht die Akklimatisationsnacht auf dem Südsattel verbringen, die ich für sehr entscheidend halte. Diese vierundzwanzig Stunden auf 7900 Meter ohne Sauerstoff erleichtern dem Körper die Anpassung an die Bela stung in dieser Höhe. Wenn man zum Gipfel Sauerstoff benutzt, ist dieser Aufenthalt nicht so wichtig, aber im allgemeinen halte ich ihn im Rahmen des Akklimatisationsprogramms für äußerst vorteilhaft. Ich hatte diesmal zu wenig Zeit über 7900 Meter verbracht, um sicher voraussagen zu können, wie mein Körper auf diese Höhe reagieren würde.
    Der dritte Grund waren die veränderten Bedingungen auf der Route, die wir vorfanden, als wir den Südsattel erreichten. Auf der ganzen Strecke lag der Schnee stellenweise einen halben bis einen Meter hoch. Mir standen nur acht einsatzfähige Sherpas zur Verfügung. Das Notlager mußte noch errichtet werden. Ich konnte von den Sherpas nicht verlangen, daß sie mit ihren schweren Lasten auf dem Rücken auch noch den Aufstieg spurten, da dies unter den gegebenen Bedingungen eine brutale, kräfteraubende Arbeit bedeutet.
    Wir hatten also acht Sherpas auf dem Südsattel. Nur Apa und Dawa würden mit auf den Gipfel gehen, während die anderen Vorrä te auf das in 8500 Meter gelegene Notlager schaffen sollten. Apa versicherte mir immer wieder, er habe die Versorgung von Lager V im Griff und ich sollte mir deswegen keine Sorgen machen. Bashkirov, Vinogradski und ich wußten, daß Sauerstoff knapp war, was bedeutete, daß wir eventuell ohne auskommen mußten. Eine Flasche Sauerstoff reicht sechs Stunden bei einem Verbrauch von zwei Litern pro Minute, was sehr gering angesetzt ist. Bei einem Liter Verbrauch verdoppelt sich der Vorrat. Da wir sehr viel Ausrüstung hinaufschaffen und im Tiefschnee eine lange Spur austreten mußten, stand uns Schwerarbeit bevor.
    Am 26. April brachen wir um Mitternacht vom Südsattel auf. Ich ging mit Sauerstoff – ein Liter pro Minute –, übernahm von Anfang an die Spitze und spurte langsam und mühselig. Vinogradski und Bashkirov schonten ihre Kräfte und folgten mit den Indonesiern. Auf 8300 Meter merkten wir, daß unser Tempo so war wie im letzten Jahr. Ich führte die Reihe an, Apa ging hinter mir. Aber das Team war ziemlich langsam. Ich spurte weiter bis auf eine Höhe von 8600 Meter. Nach neun Stunden Stapfen durch schenkeltiefen Schnee erreichte ich erschöpft den Südgipfel.
    Unter mir sicherte Apa eine steile Passage zwischen 8600 und 8700 Meter knapp unterhalb des Südgipfels. Um elf Uhr traf das gesamte Team auf dem Südgipfel ein. Wir hielten eine Lagebesprechung mit Apa ab, der vorschlug, ich sollte weiter voraus zum Gipfel gehen und spuren. Als ich ihn um ein Seil fragte, sagte er nur, daß wir keines mehr hätten. Vom Spurtreten total erschöpft, da der Energieverbrauch in dieser Höhe Ausdauer und Kondition stark beeinträchtigt, brachte ich nicht mehr die Kraft auf, den letzten Teil unserer Route zu sichern, indem ich alte Seilreste zusammenknüpfte. Ich konnte es nicht fassen – wo war das Seil? Apa gestand nun, daß er die letzten hundert Meter Seil in einem Bereich der Route ver braucht hatte, der normalerweise nicht versichert werden muß. Da der Schnee hier
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