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Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn
Autoren: Birgit Fiolka
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nebeneinander gingen, umgeben nur von den Schatten der Bäume und Sträucher, betrachtete Neaira Stephanos Gesicht im Licht des Mondes und erinnerte sich an jenen Mann, der einst in Megara vor ihr gestanden hatte. Er war nicht reich gewesen, doch er hatte Hoffnung und Glauben an das Leben besessen, womit er auch ihren Glauben neu zu entzünden vermocht hatte. Doch was hatte ihnen die Zukunft gebracht, was all der Reichtum, den Stephanos angehäuft hatte? Sie waren beide nicht glücklicher dadurch geworden. Die Zeit hatte alle ihre Träume fortgespült und einer niederschmetternden Wirklichkeit Platz gemacht, in der sie jeder für sich allein gefangen waren.
    „Stephanos“, sagte Neaira aus einer Laune heraus, ohne ihn anzusehen. „Glaubst du, dass wir nach unserem Tod all das sein können, was uns im Leben verwehrt geblieben ist?“
    Er schien eine Weile zu überlegen, während sie weitergingen. Neaira meinte, dass er ihr keine Antwort geben würde. Dann blieb er plötzlich stehen, zupfte eine Blüte von einem der Sträucher, und steckte sie ihr ins Haar.
    „Ja, ich glaube, dass es so ist. Wir sind mehr als bloße Schatten im Hades. Alle Fehler, die wir im Leben begangen haben, können wir dort berichtigen ... irgendwie.“
    „Ich meinte eher die elysischen Felder, Stephanos ... die blühenden Inseln, auf denen Helden wie Helena und Achilles leben.“
    Er lachte ob ihrer Unbescheidenheit und legte einen Arm um sie. „Die elysischen Felder sind den Helden vorbehalten. Wir sind keine Helden, Neaira. Wir werden durch den Hades wandeln ... oder im Tartaros für unsere Fehltritte bestraft werden. Ich glaube jedoch nicht, dass wir beide so schlecht sind, dass der Tartaros auf uns wartet.“
    Neaira nahm seine Hand, und sie gingen weiter, ohne zu sprechen. Alles, was gesagt werden musste, war gesagt worden.

26. Kapitel
Leben und Sterben
    Am nächsten Morgen weckte Thratta Neaira, indem sie ihre Herrin am Arm rüttelte und laut weinte. Neaira, die es nicht gewohnt war, von ihrer Sklavin derart überrumpelt zu werden, schreckte hoch und versuchte Thratta zu beruhigen. Die Sklavin war verängstigt, als hätte sie direkt in den Tartaros geblickt.
    „Sie sind gekommen, um Kokkaline fortzuschleppen“, jammerte Thratta, während Neaira bereits von ihrer Kline sprang.
    „Wer ist gekommen? Was redest du da, Thratta?“
    „Proxenos und ein anderer Mann, den ich nicht kenne.
    Tu doch etwas Herrin, sie werden sie umbringen!“
    Neaira versuchte, Thrattas Worte in ihrem Kopf zu ordnen. Beruhigend redete sie auf die verängstigte Sklavin ein, die zitternd vor ihr stand. Nur schwer gelang es ihr Thratta zu beruhigen, doch dann erzählte sie Neaira, dass Kokkaline hinaus in den Garten gerannt war als Proxenos sie hatte packen wollen. „Sie sind hinter ihr hergelaufen. Es wird nicht lange brauchen, bis sie Kokkaline finden.“
    Neaira sah sich hektisch im Raum um. Würde mir Zeus doch einen Blitz schicken, den ich auf Proxenos schleudern kann , dachte sie, während Kokkaline wieder anfing zu schluchzen. Neairas Blick fiel auf einen schweren Gürtel, der vom Vortag noch auf dem Deckel ihrer Truhe lag.
    Kokkaline hatte ihn dort hingelegt. Kokkaline! , kreischte ihr Verstand panisch. Neaira nahm den Gürtel und zog Thratta am Arm mit sich. „Was hast du denn vor?“, jammerte ihre Sklavin, als sie Neaira mit dem Gürtel sah.
    „Was für den Rücken meiner Sklavinnen gut war, wird auch Proxenos’ Tag versüßen.“
    Thratta begann noch lauter zu jammern, meinte, dass Proxenos sie töten würde – sie und auch Kokkaline. Neaira versetzte ihr eine Ohrfeige. Mit harscher Stimme fuhr sie ihre nunmehr verhalten schluchzende Sklavin an. „Aber wenn ich nichts tue, stirbt Kokkaline auf jeden Fall!“
    Das endlich schien Thratta zu begreifen und folgte Neaira, die noch immer ihr Nachtgewand trug. Als sie hinunter ins Andron kamen, hatten sich bereits die übrigen Sklaven versammelt. Aufgeregt erzählten sie Neaira, dass Proxenos gesagt hätte, dass Kokkaline für die Sklavenfolter ausgewählt worden wäre. Neaira zog Thratta hinter sich her und rief den anderen Sklaven zu, sich zu verstecken. Sie wusste, dass sie ihr nicht helfen konnten, ohne die Todesstrafe zu riskieren. Ein Aufstand gegen einen freien Bürger oder Herrn war ein schweres Vergehen. „Wenn sie Kokkaline holen, werden sie auch dich bald fortschleppen“, erklärte Neaira Thratta. „Wenn ich Proxenos ablenke, nimmst du Kokkalines Hand und läufst ins Haus. Ihr müsst
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