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Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn
Autoren: Birgit Fiolka
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erkennen konnte. Während der nächsten Tage taten sie nichts anders als Wollfäden zu spinnen, die am Abend von Idras abgeholt wurden. Anfangs bluteten Neairas Hände von den harten Fäden, die ihre Finger wundscheuerten.
    Doch nach ein paar Tagen und der Unterweisung Metaneiras wurde sie flinker und die Haut auf den Fingerkuppen härter. Ihren Händen wäre ohnehin nichts anderes übrig geblieben, als sich an die Wollfäden zu gewöhnen. Arbeiteten die Mädchen für Idras Empfinden zu langsam, setzte es Schläge von der Schwarzen.
    Nach einem Mondumlauf kam überraschend Nikarete und musterte beide Mädchen ausgiebig. Sie trug einen leuchtend roten Peplos und allerlei Schmuck, der an ihren Fingern, den Handgelenken und ihren Ohrläppchen hing. Im Licht der Talglampe funkelte sie wie ein Berg aus glitzernden Steinen und Bosheit, und ihr geweißtes Gesicht flößte Neaira Furcht ein. „Wie ich sehe, hat sich die kleine Mänade in ihr Schicksal gefügt. Das ist gut, denn es wäre doch schade um so ein hübsches Ding. Idras ist sehr geschickt mit dem Stock. Ich sehe nicht den kleinsten Kratzer auf deiner Haut.“ Als ob sie ein Pferd prüfte, zog sie Neaira zu sich hin und betastete ihren Körper. Wäre sie eine Katze gewesen, Neaira hätte einen Buckel gemacht und gefaucht – vor allem als Nikarete ihr den Mund öffnete, um hineinzuschauen. „Alle Zähnchen am richtigen Platz, keines ausgeschlagen oder faul.“
    Neaira klappte den Mund so schnell zu, dass Nikarete erschrocken ihre Finger zurückzog und sie verärgert ansah.
    „Du bist noch sehr jung und wirst genügend Zeit haben dich zu besinnen, doch Metaneira hier ... “, sie wies mit einem spitzen Finger auf das Mädchen, das dem Geschehen still zugesehen hatte, „ ... muss rasch lernen!
    Entweder ein Leben als Wollspinnerin in einem Sklavenchiton und nachts die schwitzenden Körper einfacher Seeleute und Männer oder guter Wein, die Gesellschaft reicher Herren und Annehmlichkeiten. Wofür entscheidest du dich?“
    Das Mädchen legte die Wollspindel zur Seite und antwortete, ohne zu zögern: „Auch wenn mein Körper mir nicht mehr gehört, so würde ich doch das angenehmere Leben vorziehen.“
    Nikarete schien zufrieden, denn ein seltenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Dann heiße ich dich in meinem Haus willkommen. Ab heute wirst du meine Tochter sein.“
    Es war dem Entschluss Metaneiras zu verdanken, dass sie nicht länger ihre Zeit mit Wollspinnen verbringen mussten. Sie zogen noch am gleichen Tag aus dem hinteren Teil des Hauses auf den großen Hof mit den vielen Zimmerfluchten um. Auch das neue Zimmer war klein, stellte jedoch eine wesentliche Verbesserung dar – es wurde nicht hinter ihnen verschlossen, und sie konnten hinaus auf den Hof gehen und die Sonne in ihr Gesicht scheinen lassen. Sie hatten die Sonne so lange nicht mehr gesehen, dass Metaneira ein Polster von ihrer Schlafkline zerrte und es in den Hof legte, wo sie den ersten Tag einfach faul in der Sonne lagen. Ihre bescheidene Idylle hatte nur einen einzigen Makel – Stratola und Anteia lebten ebenfalls auf dem Hof. Neaira entdeckte die beiden, wie sie tuschelnd mit ihren Wollkörben vor ihren Zimmern saßen und Wolle spannen. Doch die Schadenfreude darüber, dass vor allem Stratola der verhasste Wollkorb nicht erspart geblieben war, erregte nur kurz Neairas Aufmerksamkeit. Stattdessen maß sie den Abstand vom Boden bis zum Dach der Zimmer, der nicht besonders hoch zu sein schien. „Wir könnten doch einfach weglaufen – nachts, wenn alle schlafen.“
    Metaneira, die neben ihr in der Sonne gedöst hatte, öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. „Denk nicht mal dran, meine Kleine. Glaub mir, da draußen ist nichts für uns, und ich verbiete dir, nachts das Zimmer zu verlassen.“
    Eine trotzige Bemerkung lag auf Neairas Lippen, doch sie verschluckte sie. Metaneira war zu nett zu ihr, und sicherlich würde sich noch eine bessere Gelegenheit zur Flucht bieten. Denn fortlaufen wollte sie auf jeden Fall.
    Sofort am ersten Abend verstand Neaira auch, weshalb Metaneira nicht wollte, dass sie nachts das Zimmer verließ.
    Ungewohnte Geräusche, schrille Laute und dumpfes Grunzen raubten ihr den Schlaf und machten ihr Angst.
    Vielleicht, so glaubte sie, waren es Mänaden und Satyrn, die diesen unscheinbaren Hof heimsuchten, um ein Fest für Dionysos zu feiern. Ihre Mutter hatte ihr oft vom Weingott und seinem Gefolge erzählt, wenn sie unartig gewesen war.
    „Wenn du nicht damit
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