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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas
Autoren: Antje Babendererde
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werden gesungen für diejenigen, die in eine andere Welt gezogen sind. Auf diese Weise denken wir an sie und sorgen dafür, dass sie nicht in Vergessenheit geraten.«
    Das ist ein schöner Brauch, dachte ich.
    Nach den Trauerliedern erfolgte eine Zeremonie, die das Potlatch eröffnete. Javid kam wieder zu mir. »Komm«, sagte er, »gleich beginnen die Tänze. Wir sollten uns einen besseren Platz suchen.«
    Er nahm mich fest an der Hand, als fürchte er, ich könne unter den vielen Menschen verloren gehen. Tatsächlich tummelten sich hunderte Leute am Strand. Ganz Neah Bay war auf den Beinen und feierte. Viele indianische Gäste von anderen Stämmen entlang der Nordwestküste waren mit ihren Autos gekommen, um an den Makah-Festtagen teilzunehmen. Und da standen auch unzählige weiße Touristen. Ganze Familien – Großeltern, Mutter, Vater, Kinder. Videokameras surrten ohne Unterlass.
    In der Dämmerung begannen die Maskentänze, von denen mir Javid schon so viel erzählt hatte. Überall am Strand waren Feuer entfacht worden, die jetzt lustig flackerten. Um das größte Feuer sammelten sich die Tänzer in ihren roten, schwarzen oder weißen Umhängen, die mit stilisierten Tiermotiven bedruckt oder bestickt waren. Einige trugen ihre schweren Masken noch unter dem Arm, andere hatten sie sich bereits auf den Kopf gesetzt und glichen nun Furcht erregenden Ungeheuern aus einer anderen Welt.
    Bevor die Tänze begannen, sagten die Ältesten des Stammes ein paar feierliche Worte. Der Sprecherstab wurde dabei von einer Hand zur anderen weitergegeben. Es waren drei Männer und fünf Frauen und ich erkannte Tylers Großvater William McCarthy darunter.
    Als er als Letzter seine Ansprache beendet hatte, begann er die Handtrommel anzuschlagen. Dumpf und schwer zogen die Töne über den Strand, bis eine weitere Trommel einsetzte und der Rhythmus schneller wurde. Die Tänzer trugen nun alle ihre Masken und begannen sich im Takt zu bewegen. Ihre roten und weißen Tanzdecken zeichneten sich scharf gegen den Kiesstrand ab, während die schwarzen den Körper verschluckten und es so wirkte, als würden nur noch wild aussehende Köpfe um das Feuer herumwirbeln.
    Zu Beginn erhellte das Blitzlichtgewitter der vielen Hobbyfotografen die Szenerie. Aber je später es wurde, umso weniger Touristen waren noch am Strand zu finden. Feuchter Nachtnebel hatte sie in die Flucht geschlagen.
    Wenn jetzt ein Blitz aufleuchtete, wusste ich, dass es mein Vater war, der die Tänzer fotografierte. Später würde er aus hunderten Aufnahmen einige wenige heraussuchen und sie an seinen Verlag schicken. Wenn er sich früher zwischen zwei ähnlichen Aufnahmen nicht entscheiden konnte, hatte er immer meine Mutter gefragt.
    Ob er nun mich fragen würde?
    Tyler und Alisha tanzten mit den anderen um das Feuer. Alisha sah wunderschön aus in ihrem Kostüm und die Muscheln und Glöckchen klirrten, wenn sie herumwirbelte.
    Schließlich zog Javid das Band, das seine Haare zusammengehalten hatte, heraus und mischte sich ebenfalls unter die Tänzer. Die Perlmuttplättchen auf seinem roten Hemd funkelten im Schein des riesigen Feuers. Als er sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis drehte und die langen Haare um seinen Kopf flogen wie Nachtflügel, erinnerte er mich an einen Adler, der sich in die Lüfte schwang.
    Ich liebte Javid und der Gedanke, ihn morgen mit den anderen ziehen lassen zu müssen, tat mir plötzlich so weh, dass ich schwankend nach einem Halt suchte.
    Â»Ist dir nicht gut?«, hörte ich Freda hinter mir fragen. Besorgt legte sie mir eine Hand auf die Schulter und drehte mich zu sich herum. Ich schüttelte den Kopf, aber sie entdeckte die Tränenspuren auf meinen Wangen. Liebevoll zog sie mich in ihre Arme und es tat gut, ihren Duft einzuatmen, die Wärme ihres Körpers zu spüren.
    Â»Sofie«, sagte sie, »jetzt bist du traurig, weil du ihn nicht haben kannst. Aber später, wenn du wieder in Deutschland bist und über vieles nachgedacht hast, wirst du froh sein, dass du ihn kennen gelernt hast.«
    Â»Werde ich ihn nie wieder sehen?«, fragte ich leise, sodass sie mich kaum verstand.
    Â»Oh, das liegt doch ganz allein in deiner Hand. Du bist bald erwachsen und kannst dein Leben selbst gestalten. Hier bei mir wirst du immer willkommen sein. Am Anfang warst du nur ein Gast in meinem Motel, Sofie, jetzt bist du
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