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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman
Autoren: Picus-Verlag
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Bauch, sie lebte. Zum Leben gehören immer noch zwei. Zwei warme Arme um ihre Taille.
    Jetzt, nach der Pause, sang Klara wieder Schumanns Lieder aus dem Frauenliebe und -leben-Zyklus: Nimm, bevor die Müde/ deckt das Leichentuch/ nimm ins frische Leben/ Meinen Segensspruch: Muss das Herz dir brechen/ bleibe fest dein Mut/ Sei der Schmerz der Liebe/ Dann dein höchstes Gut. Und darauf ließ sie ohne Ankündigung ein Lied aus der Entführung aus dem Serail folgen, als wollte sie die Bedrückung, die sie mit dem Lied von Schumann hervorgerufen hatte, zerstreuen, Henrietta trösten, die Leute amüsieren, sie begoss ihr Publikum mit einer warm-kalten Dusche, eine sprunghafte Art, mit ihrer himmlischen Stimme zu interpretieren, dass man nichts ernst nehmen muss, auch die Trauer einer Verlassenen nicht, auch die Todesangst nicht, nichts, nichts, sie, Klara, stand sowieso im frischen Glück, das sah man doch, armer Viktor, armer betrogener Viktor, den seine Sängerin (spöttisch?) anstarrte, als sie die ermunternden, doch so traurigen Worte des Liedes sang, aber sie schaffte es, die Göre, die Stimmung wieder aufzuhellen, was für ein Talent, diese kleine Hexe schafft alles, ach, und wo war der Fischer? Anscheinend hatte er sich doch verdrückt, nachdem er sich den Magen mit ihrem köstlichen Essen vollgestopft hatte. Dieser Primat spielte sowieso keine Rolle mehr. Viktor stand mit gekreuzten Armen neben Gert, ihr Mann sah jetzt verloren und blass aus. Irrte sie oder hatte er Tränen in den Augen? Beide hörten Klara zu, Viktor kritischer, vielleicht nicht wirklich versunken.
    Gut, dachte Viktor, dass Klara in ihrer Partitur las und nicht in seinem Kopf. Sie sang jetzt eine melancholische Arie, die alle Zuhörer wieder traurig stimmte. Warum hatte sie nicht mehr Fröhliches ausgewählt, schließlich war man nicht auf einer Beerdigung, immer wieder dieselben Themen, Lieder von Brahms oder Wolf oder Hensel, und immer wieder Schumann, es ging stets um verlorene Liebe und todbringende Nacht. War das die Auswahl dieses Florians? Nein, Gerlachs Lieblingsstücke, sicher, der hat die morbide Auslese getroffen, der hat sich hier alles ausgesucht, wie Klaras Kleid, wie diese ganze Inszenierung. Der Alte sieht traurig aus, ich selbst darf nicht weinen, muss mich ablenken, den Leuten zuschauen, die nach den letzten Petits Fours schielen oder Musikkenner-Mienen aufsetzten, sich von Wachträumen transportieren ließen, die da lehnt den Kopf auf die Schulter ihres Partners, die beiden dort halten sich an der Hand, es gibt auch die Einsamen, die sich mit der eigenen Haut beschäftigen, sich auf die Lippen beißen, an den Fingernägeln kauen, sich an die Nase fassen oder unter der Armbanduhr kratzen. Bei Liebestreu Opus drei spielte eine Zuhörerin nervös mit ihrer Perlenkette, bald würde der Halsschmuck reißen, wenn sie ihn weiter malträtierte, eine Frau mit feuchten Augen rollte eine Strähne ihrer Haarmähne um ihre Finger, ein Mann stocherte diskret hinter der linken Hand mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen.
    Klara kündigte ein letztes Lied an, für dich, lieber Gert, sagte sie, für dich, großzügiger Freund, dieses letzte Lied, als wären nicht alle Lieder für ihn gesungen worden, als müsste sie jetzt öffentlich zugeben, dass sie sich bezahlen ließ! Und sie trug Immer leiser wird mein Schlummer Opus hundertfünf vor. Mitreißend klang die Steigerung des »Komm, oh komme bald«, sodass alle Zuhörer das Leid unerfüllter Liebe spürten und den feuchten Blick senkten. Nur Gert schaute unverwandt zu Klara hin und strahlte und weinte. Ja, er weinte.
    Nach dem rauschenden Applaus versuchte Viktor, sich einen Weg zu Klara zu bahnen, um ihr zu gratulieren, eine Schar Bewunderer umzingelte sie, lobte sie über den grünen Klee, drückte ihr die Hände. Viktor lenkte dann seine Schritte zu Moira – er schaute geradeaus in ihre Kamera – und Moira stoppte und senkte das Gerät und gab ihm seinen Blick zurück, einen trauernden Blick, den er nicht verstand. Na, sagte er dann, gehören auch die heutigen Dreharbeiten zu Ihrem Film? Sie schaute schweigend weiter, hob unbeholfen die Schulter, eine Geste, die nicht zu ihr passte. Was ist los, Moira, sagte er. Bist du traurig? Habe ich dir etwas angetan? Moiras Lächeln öffnete weite Felder der Zärtlichkeit und der Sehnsucht. Ja, sagte sie, diese »Dreharbeiten« gehören zum Ende des Films, falls ich diesen Film zu Ende drehe, ich sammle eigentlich nur Material und
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