Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger
Autoren: Thomas Kanger
Vom Netzwerk:
zurück«, sagte Espen.
    Schweigend standen sie sich gegenüber. Dann trat Simone beiseite und ließ Espen hereinkommen.

77. Kapitel
    Ende September begann der Prozess gegen Lydia Tamaradze. Die Staatsanwaltschaft warf ihr achtfachen Mord vor, forderte jedoch keine bestimmte Strafe. Die Frage nach Lydias Schuld war politisch brisant. Niemand weinte den Terroristen, die sie getötet hatte, eine Träne nach, aber in bestimmten Zeitungen schob man Lydia die moralische Verantwortung für die Ermordung der drei dänischen Politiker zu. Man wies ihr auch die Schuld dafür zu, dass die Terroristen Wohnhäuser mit Granaten beschossen hatten, wobei mehrere Bewohner zu Tode gekommen waren. Andere Medien erkannten ihren Marktwert: Sie wurde als Heldin dargestellt. Obwohl Ministerpräsident Rasmus Falck Pedersen weiterhin behauptete, Lydia Tamaradze sei Mitglied des paramilitärischen Einsatzkommandos gewesen, wurde sie in mehreren Zeitungen als einzige mutig Agierende in einem schmutzigen Spiel bezeichnet. Was Lydia Tamaradzes Taten anging, war die dänische Öffentlichkeit geteilter Meinung.
    Gegen die Begründung der Mordanklage, die der Staatsanwalt vorlegte, war offenbar nichts einzuwenden. In Dänemark besaß die dänische Polizei das Gewaltmonopol. Im Normalfall hatte niemand das Recht, Selbstjustiz zu praktizieren. Bei keinem der Morde hatte außerdem eine akute Notwehrsituation
vorgelegen. Dafür wäre erforderlich gewesen, dass einer der Terroristen Lydia selbst oder einen anderen Menschen in dem Augenblick bedroht hätte, als Lydia zur Tat geschritten war. Also musste die Anklage auf Mord lauten. Der Staatsanwalt überließ es Lydias Verteidiger, Gründe für eine eventuelle Strafminderung vorzubringen.
    Der Verteidiger verfolgte eine klare Strategie. Seine Mandantin Tamaradze gestand, die acht Terroristen getötet zu haben. Da jedoch eine akute Geiselsituation vorgelegen hatte, war das gleichbedeutend mit Beihilfe zur Notwehr gewesen. Deswegen musste sie freigesprochen werden. Wurde sie wegen Mordes verurteilt, so lag laut Verteidiger trotzdem Beihilfe zur Notwehr als mildernder Umstand vor. Sie musste deswegen mit einer wesentlich milderen Strafe davonkommen.
    Das Gericht war ebenso zwiegespalten wie das dänische Volk. Schließlich verurteilte das Gericht sie zwar wegen Mordes, befand aber, dass die Taten nicht wie normale Morde zu bewerten seien. Da ihre impulsiven Handlungen sehr schwere Konsequenzen für einige Geiseln gehabt hatten, war eine Freilassung ausgeschlossen. Die Strafe sollte jedoch bedeutend milder ausfallen. Lydia Tamaradze wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und sollte nach verbüßter Strafe auf Lebenszeit des Landes verwiesen werden.
    Lydia nahm das Urteil entgegen, ohne irgendwelche Gefühle erkennen zu lassen. Ihr Kampf war vorbei, und sie gehörte zur Verliererseite.
     
    Vincent Paulsen kehrte allmählich wieder in den Dienst zurück. Er wurde verwarnt, weil er Lydia Tamaradzes Aufenthalt im Land nicht angezeigt hatte, aber das war auch alles. Vor den Medien hatte Bjarne Skov enthüllt, dass Vincent Paulsen einer der drei Beamten gewesen sei, denen es geglückt war, Barsebäck
als Zielscheibe der Terroristen zu identifizieren. Nach diesem Interview war es der Polizeiführung unmöglich, Paulsen zu entlassen. Dem Ministerpräsidenten gelang es durch ein geschicktes Manöver, seinen bisherigen indirekten Vorwurf, Paulsen sei ein Verräter, zu entschärfen. Er schlug vor, Paulsen, Møller und Christian den höchsten Tapferkeitsorden des Landes zu verleihen. Nach der Zeremonie vergaßen die Zeitungen rasch, dass sie noch vor Kurzem Paulsens Haus auf der Jagd nach einem Sündenbock belagert hatten.
    Einige Tage nachdem Vincent seinen Orden bekommen hatte, wanderte er in Richtung der Vor Frue Kirke. Er blieb vor dem kleinen Juweliergeschäft stehen und klingelte. Simon Herschfeld gewährte ihm Einlass und hieß ihn willkommen. Sie setzten sich wie ein altes Ehepaar auf ihre angestammten Plätze.
    Vincent erzählte die lange Geschichte von Lydia und ihm selbst und berichtete von Paolo Rocca und den Terroristen. Herschfeld hörte ihm zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen.
    »Ich habe einen Orden bekommen«, sagte Vincent schließlich, »aber ich schäme mich. Ich schäme mich sogar sehr. Ich habe sie verraten.«
    »Fragen Sie sich lieber, ob Sie etwas hätten anders machen können«, sagte Herschfeld. »Wenn nicht, dann trifft Sie keine Schuld.«
    »Meine Schwester Karoline hat
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher