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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar
Autoren: Ron Leshem
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nicht sicher, ob ich noch weiß, warum ich mich eigentlich an sie wandte. Ich mache das ab und zu: «Suche Freundschaft» mit einem Menschen, der keinerlei Grund hat, mein Freund zu sein. Ich schlüpfe, unter dem Schutz eines Freundschaftsnetzwerks, in seine Fotoalben, dringe in aller Stille in sein Haus ein, beobachte ihn beim Essen mit der Familie, im Büro, im Urlaub, in der Bar, am Strand, wie er aufwacht und einschläft. Ich lerne seine diversen Blicke kennen, weiß, wie viele verschiedene Menschen er umarmt und auf welche Art. Alle Gestalten in seinem Leben sind etikettiert, und ich klicke mich durch die Namen. Sie schreiben, er antwortet – was er denkt, was er mag, wie seine Laune heute Morgen ist. Er hält sie auf dem Laufenden, die Leute lieben das. Und ich wandere dort herum, und auf merkwürdige Art und Weise wird daraus wirklich manchmal eine Freundschaft. Wenn ich Freundschaft mit Palästinensern suche, willigen die wenigsten ein. Bei Ägyptern ist die Offenheit gegenüber Israelis gleich null. Die Syrer haben keinen wirklichen Zugang zum Internet. Aber als ich es bei Iranern versuchte, reagierten sie ausnahmslos positiv. Ihre Fotos sahen aus, als wären sie gleich am nächsten Straßeneck aufgenommen. Nachts überschütteten sie mich mit einer wilden Flut von Konversationen innerhalb eines Paralleluniversums, das im Prinzip genau wie unseres aussah, nur mit schärferen Farben. Und mit jedem Bild, jeder Geschichte offenbarte sich ein kleines Detail von diesem anderen Stern, ein Mond, der in einer benachbarten Umlaufbahn kreist.
    Zwei Jahre lang korrespondierten wir, die Iraner und ich. Illegale Freunde. Der Gedanke, dass die Welt uns verbietet, uns zu treffen, machte mich wahnsinnig. Ich versuchte, etwas zu lernen: Sprache und Slang, Musik, Straßennamen, Parks und Restaurants. Und Gesetze. Denn im Iran muss sich ein Mensch zahlreiche Verbote im täglichen Leben merken, Gesetze und Religionsvorschriften wachsen aus dem Boden und verschwinden wieder. Frauen dürfen nicht singen, aber in einem Chor schon. Es ist ihnen verboten, Motorrad zu fahren, aber Fahrrad fahren dürfen sie. Auf Homosexualität steht der Tod, aber eine Operation zur Geschlechtsumwandlung wird vom Staat geradezu ermutigt. Welcher Mensch wäre ich wohl an einem solchen Ort?, fragte ich mich. Also schloss ich die Augen und versetzte mich an einen dunklen Ort. Was würdest du tun, wenn man dir deinen Staat stiehlt? Würdest du aufstehen, dich erheben in dem Wissen, dass du fallen wirst? Würdest du im Untergrund kämpfen oder demonstrieren? Würdest du dich zur Religion bekehren, das heißt, kapitulieren? Vielleicht ist die Freiheit ja zu schwer zu ertragen? Normalerweise schreibe ich, um mir ein Leben zu erschaffen, das mir nie möglich ist. Schreiben ist für mich, es zu leben, und so schreibe ich, statt zu leben. Also warf ich mich hinter den schwarzen Vorhang und wanderte herum. Wie tief ist der Abgrund, der zwischen uns klafft?, fragte ich mich. Doch ich gewöhnte mich bald daran, denn der Iran weiß, wie er dich daran gewöhnt. Und Menschen gewöhnen sich an alles – Gesetze, Unrecht, Diskriminierung – und versinken in Gleichgültigkeit, schwimmen im Strom ihrer trügerischen Privatsphäre, nennen das Leben. Als ich begriff, dass die Ähnlichkeit die Verschiedenheit bei weitem übertraf und gar kein Abgrund klaffte, senkte sich eine dunkle, quälende Wolke über mich, die jedoch immer wieder auch von Lichtstrahlen und Hoffnung durchbrochen war, je nachdem, was ich sehen wollte.
    In den folgenden Monaten interviewte ich Freunde, Journalisten aus Frankreich und Deutschland, übertrug ihnen Missionen jenseits des schwarzen Vorhangs. Sie fotografierten Gesichter für mich, besuchten Partys, auch im Untergrund, trugen Zeugnisse zusammen. Ich sah Filme, las Bücher, lernte Lieder, sammelte Karten. Und ich surfte ohne Ende im Netz; wird das Internet die Welt verändern, oder wird es uns nur gestatten, der Welt zu entfliehen? Ich suchte Antworten im Iran, denn eine virtuelle Welt inmitten eines dunklen Lebens ist viel weniger ein Gegensatz, als man normalerweise annehmen würde. Ist es eine Öffnung für die menschliche Phantasie oder hauptsächlich Ablenkung? Kann es ein Regime erweichen? Kann das Netz zensiert werden? Und welchen Gebrauch werden die Unterdrückten davon machen? Was würde passieren, wenn sie es als Waffe im Dienst der Freiheit benötigten? Die Menschen werden bleiben, wie sie sind, wie sie seit der Steinzeit
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