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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass
Autoren: Kirill Bulytschow
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geirrt.
Freilich wartete eine andere Überraschung auf ihn, eine andere Erschütterung. Es war der Ausdruck jenes Zeitenzipfels, jener Pause, in der das Schiff verharrte, seit es von den Menschen verlassen worden war, und die zu dem Tag herüberreichte, da Oleg nun zu ihm zurückkehrte.
In dem kleinen Raum stand ein Kinderbettchen. Oleg begriff sofort, daß diese Vorrichtung mit den seitlich herabbaumelnden Gurten — weich und scheinbar in der Luft schwebend — für einen Säugling bestimmt war. Und alles wirkte so, als hätte man das Kind eben erst, vor einer Minute, in aller Hast hinausgetragen, sogar ein winziges rosa Strümpfchen und eine Klapper, ein buntes Rasselspielzeug waren zurückgeblieben. Oleg, der noch nicht begriffen hatte, daß er in diesem geschützten Gebiet stillstehender Zeit mit sich selbst konfrontiert wurde, hob die Klapper auf und schüttelte sie. Und erst in dem Augenblick, beim Geräusch der Klapper erkannte er, so seltsam das sein mochte, die Realität des Schiffes an, die Realität dieser Welt, die ihn auf einmal viel tiefer und wirklicher dünkte als die Existenz der Siedlung und des Waldes. Im gewöhnlichen Leben war es nicht möglich, sich selbst zu begegnen. Die Gegenstände verschwanden, und blieb doch einmal etwas übrig, dann als Erinnerung. Hier aber, am Bettrand befestigt, hing noch das Fläschchen mit einem Rest Milch; die Milch war zwar gefroren, doch man konnte sie aufwärmen und austrinken.
Als er sich aber so dem eigenen Ich gegenübersah, als er diese Begegnung nun endgültig begriffen und verarbeitet hatte, machte er sich auf die Suche nach den Spuren jener beiden anderen Menschen, die jenseits der angehaltenen Zeit zurückgeblieben waren — auf die Suche nach Vater und Mutter.
Die Mutter zu finden war leichter. Sie war von hier fortgerannt, ihn, Oleg, auf dem Arm, und so lag auf ihrem Bett im Hintergrund der Kajüte — ein geknülltes Häufchen — ihr in aller Hast abgestreifter Morgenrock. Ein Hausschuh schaute unter dem Bett hervor; das Buch, in ein Blatt Papier geschlagen, lag auf dem Kissen. Oleg hob das Buch auf, vorsichtig, weil er fürchtete, es könnte zerfallen wie jene Pflanze im Korridor. Doch das Buch hatte den Frost bestens überstanden. Es trug den Titel „Anna Karenina“ und war von einem Mann namens Tolstoi geschrieben. Es war ein dickes Buch, und auf dem Lesezeichen darin waren ein paar Formeln hingekritzelt — die Mutter war Chemikerin. Oleg hatte noch nie die Handschrift seiner Mutter gesehen — im Dorf gab es kein Papier zum Schreiben. Er hatte auch noch nie ein Buch zu Gesicht bekommen, denn niemandem war es in jenem Moment eingefallen, so etwas mitzunehmen. Oleg hatte den Namen des Schriftstellers im Unterricht gehört, bei Tante Luisa, er hätte aber nie gedacht, daß jemand so ein dickes Buch schreiben könnte. Er nahm es mit dem festen Entschluß an sich: Und würde der Rückweg noch so schwer werden — das Buch mußte mit. Ebenso wie das Blatt Papier mit den Formeln. Nach einigem Überlegen packte er auch die Hausschuhe der Mutter in den Sack. Sie kamen ihm zwar reichlich eng vor für die alten kaputten Füße der Mutter, doch sie sollte sie wiederhaben.
Die Spuren des Vaters dagegen, so dinglich augenscheinlich sie waren, übten auf Oleg erstaunlicherweise weniger Wirkung aus als die Begegnung mit sich selbst. Es mußte daran liegen, daß der Vater zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht bei ihnen gewesen war. Kurz vorher zum Wachdienst aufgebrochen, hatte er als akkurater Mensch, der keine Unordnung duldete, gründlich aufgeräumt. Seine Bücher standen hinter Glas aufgereiht im Regal, die Sachen hingen in einem Wandschrank … Oleg holte die Uniform des Vaters heraus — er hatte sie auf dem Schiff offenbar nie getragen, denn sie wirkte, aus blauem, kräftigem Stoff gefertigt, noch fast neu. Auf der Brust befanden sich oberhalb der Jackentasche zwei Sternchen, und die Hose war mit schmalen Goldlitzen versehen. Oleg hielt sich die Uniform an, sie war ihm etwas zu groß. Er zog die Jacke über seine, und sie paßte ihm fast, nur die Ärmel mußte er ein Stück umschlagen; ebenso ging es ihm mit den Hosenbeinen. Er fühlte sich bequem in der Uniform und glaubte sich auch im Recht: Wäre der Vater bei ihnen im Dorf, hätte er ihm gewiß erlaubt, sie hin und wieder anzuziehn.
Jetzt hatte Oleg endgültig Besitz vom Schiff ergriffen. Er war überzeugt, daß er, wieder in den Wald zurückgekehrt, immer Sehnsucht nach ihm haben würde. Es würde
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