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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass
Autoren: Kirill Bulytschow
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— ein Gefühl, das er lange nicht mehr empfunden hatte. Ihm tat sogar ein bißchen der Bauch weh; nach seiner Meinung noch zu wenig bei dem vielen Essen. Es war ihm fast peinlich, die Überreste des üppigen Mahls zu betrachten, deshalb schob er die leeren und halbleeren Büchsen in eine Ecke des Raumes. Ich müßte meinen Erkundungsgang fortsetzen, dachte er, ob ich die anderen rufe? Lieber nicht, wahrscheinlich schlafen sie noch — Oleg kam es vor, als hätte er selbst nur wenige Minuten geschlummert.
    Er beschloß, sich ein bißchen umzuschaun und dann die Kameraden zu wecken. Auf dem Schiff gab es schon lange kein Leben mehr, er brauchte also keine Angst zu haben. Außerdem mußten sie bald wieder zurück — in zwei, drei Tagen würde der Paß im Schnee versinken. Wir aber, so schalt er sich, vertrödeln die Zeit mit Schlafen. Unglaublich!
    Als echter Waldbewohner verfügte Oleg über einen ausgezeichneten Orientierungssinn, sogar hier auf dem Schiff. Er befürchtete nicht, sich zu verirren, und stieg deshalb gelassen die Schrägrampe hinauf, die nach oben zu den Wohnkabinen führte. Er wollte die Nummer vierundvierzig aufsuchen — seine Kajüte.
    Den Wohnraum mit dem runden Schildchen 44 fand er erst nach einer Stunde. Und das nicht etwa, weil er schwierig zu entdecken gewesen wäre. Er hatte sich unterwegs einfach ablenken lassen, war zunächst ins Mannschaftslogis geraten, wo er einen langen Tisch erblickte, auf dem ihm besonders die kristallenen Salz– und Pfefferstreuer gefielen. Er steckte sogar je einen davon in seinen Sack, hoffte seiner Mutter eine Freude zu bereiten. Dann betrachtete er ausgiebig ein paar Schachfiguren. Der Kasten war bei dem Aufprall offenbar zu Boden gefallen und aufgegangen — die Figuren lagen auf dem Teppich verstreut. Er hatte noch nie etwas von einem solchen Spiel gehört und nahm an, es handle sich bei den Figuren um kleine Skulpturen ihm unbekannter Erdentiere. Erstaunlich war auch der Teppich selbst. Da er keine Nähte besaß, mußte er aus einer Tierhaut gefertigt sein. Doch welches Tier auf der Erde war so riesig und besaß so seltsame Muster? Gewiß handelte es sich um einen Meeresbewohner. Egli hatte erzählt, daß die größten Tiere Wale hießen und im Meer lebten. Nur hatte Oleg früher immer vermutet, sie besäßen eine glatte Haut. Der Junge sah dann noch viele wundersame, unbegreifliche Dinge und war, als er nach einer Stunde schließlich bei der Kajüte mit der Nummer vierundvierzig anlangte, voller Eindrücke. Freilich machte ihn diese Fülle von Eindrücken auch unzufrieden, denn er war unfähig, sich in all dem zurechtzufinden. Und betrübt, weil Thomas es nicht bis zum Schiff geschafft hatte, ihm nicht erklären konnte, wozu dieses und jenes gut war. Ja, so ungerecht es war, er empfand Groll gegen Thomas.
    Vor der Tür mit der Nummer vierundvierzig blieb Oleg lange stehen. Er konnte sich nicht entschließen, sie zu öffnen, obwohl er wußte, daß ihn dort nichts Besonderes erwartete. Er kannte auch den Grund für dieses Zögern. Obwohl die Mutter und alle anderen wiederholt versichert hatten, sein Vater sei bei der Katastrophe ums Leben gekommen — im Raum mit den Triebwerken, wo bei dem Aufprall der Reaktor auseinandergebrochen war —, schien ihm insgeheim, er könnte hier in der Kajüte sein. Vielleicht war er wieder zu sich gekommen, nachdem alle, in der Annahme, er sei tot, das Weite suchten, hatte sich hierhergeschleppt und war dann erfroren. Sogar an den Tod des Vaters hatte Oleg nie richtig geglaubt, in seiner Vorstellung lebte er und wartete hier unglücklich auf die Rückkehr der anderen. Möglicherweise lag es daran, daß auch die Mutter in ihrem tiefsten Innern überzeugt war, daß ihr Mann lebte. Das war ihr Fieberwahn, ihre Krankheit, die sie sorgsam vor den anderen, selbst vor dem Sohn, verbarg, nur daß der Sohn sie genau durchschaute.
    Schließlich gab sich Oleg einen Ruck und öffnete die Tür. In der Kajüte herrschte Dunkel, denn ihre Wände waren mit ganz gewöhnlicher Farbe gestrichen. Er hielt einen Augenblick inne und zündete die Fackel an; seine Augen brauchten einige Zeit, sich an das Halbdämmer zu gewöhnen. Die Kajüte bestand aus zwei Räumen. Im ersten befanden sich ein Tisch und eine Liege, auf der sein Vater geschlafen hatte, im zweiten, sich daran anschließenden, hatte die Mutter mit ihm, dem Kleinkind, gewohnt.
    Die Kajüte war leer, der Vater also doch nicht hierher zurückgekehrt. Die Mutter hatte sich
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