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Der Gamma-Stoff

Der Gamma-Stoff

Titel: Der Gamma-Stoff
Autoren: James Gunn
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trockene Laub. Wie zur Entschuldigung hob er den Arm. »Der Reif hält mich wach, wenn Sie zu weit weg sind.«
    Sie nickte kühl und setzte sich neben ihn – aber weit genug entfernt, um ihn nicht zu berühren.
    »Ich kann nicht verstehen, warum wir so vielen Mißgeburten begegnet sind. In meiner ganzen Zeit im Medizinischen Zentrum ist mir kein solcher Fall vorgekommen.«
    »Sie waren im Ambulatorium?« fragte Pearce. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Die Medizin wird immer mehr zu einer Behandlung von Monstren. In der Stadt würden sie sterben; in den Vororten bleiben sie am Leben, um sich fortzupflanzen. – Ich möchte mir Ihren Arm ansehen.«
    Harry zuckte zusammen. Der alte Mann hatte das so natürlich gesagt, daß er für einen Augenblick wirklich vergaß, einem Blinden gegenüberzusitzen. Die sanften Finger Pearces nahmen den Verband ab und entfernten das Gras.
    »Das brauchen Sie nicht mehr.«
    Erstaunt betastete Harry die Wunde mit der Hand. Er hatte schon seit Stunden nichts mehr gespürt. Sie war nur noch eine Narbe.
    »Vielleicht sind Sie wirklich Arzt gewesen. Warum haben Sie das Praktizieren aufgegeben?«
    Pearce flüsterte: »Ich bin es müde geworden, Techniker zu sein. Die Medizin war so verzweifelt kompliziert geworden, daß das Verhältnis zwischen Arzt und Patient mehr einem Verhältnis Mechaniker und Patient glich.«
    »Ein Arzt muß Distanz wahren«, wandte Harry ein. »Wenn er sich gefühlsmäßig beteiligt, ist er erledigt. Er muß dem Leid gegenüber abgehärtet sein, sonst könnte er nicht weiterarbeiten.«
    »Niemand hat je behauptet, daß es einfach ist, Arzt zu sein«, flüsterte Pearce. »Wenn er aber aufhört, zu fühlen, verliert er nicht nur seinen Patienten, sondern auch seine Menschlichkeit. Die Komplizierung der Medizin hatte aber auch eine andere Wirkung. Sie beschränkte die Behandlung auf diejenigen, die sie sich leisten konnten. Immer weniger Menschen wurden immer gesünder. Waren nicht auch die anderen Menschen?«
    Harry runzelte die Stirn. »Gewiß. Aber nur durch die gesunden Spender und die Stiftungen ist alles ermöglicht worden. Sie mußte zuerst behandelt werden, damit die medizinische Forschung fortgesetzt werden konnte.«
    Pearce flüsterte: »Und so wurde die Gesellschaft völlig verzerrt; alles opferte man dem Gott der Medizin – alles, damit ein paar Leute ein paar Jahre länger leben konnten. Wer bezahlte die Rechnung? Und das seltsame Ergebnis war, daß diejenigen, die gepflegt wurden, als Klasse weniger gesund waren als jene, die ohne sie überleben mußte. Man rettete alle Frühgeburten, damit sie ihre Schwächen weitergeben konnten. Defekte, die sich in der Kindheit als tödlich erwiesen hätten, wurden behoben, damit der Patient erwachsener werden konnte. Schwächen wurden weitergereicht. Die körperlich Untüchtigen vermehrten sich und bedurften größerer Aufmerksamkeit …«
    Harry setzte sich auf. »Was ist das für eine Ethik? Die Medizin darf weder die Kosten berücksichtigen noch Wertmaßstäbe anlegen. Ihre Aufgabe ist es, die Kranken zu behandeln.«
    »Jene, die es sich leisten können. Wenn die Medizin nicht wertet, dann wird es etwas anderes tun: die Macht, das Geld oder Gruppen. Eines Tages hatte ich genug von allen. Ich ging zu den Bürgern, wo die Zukunft lag, wo ich helfen konnte, ohne Unterschiede machen zu müssen. Sie nahmen mich auf, sie gaben mir zu essen, wenn ich Hunger hatte, sie lachten mit mir, wenn ich glücklich war, und sie weinten mit mir, wenn ich traurig war. Sie fühlten, und ich half ihnen, so gut ich konnte.«
    »Wie denn?« fragte Harry. »Ohne Diagnostiziermaschine, ohne Medikamente und Antibiotika?«
    »Der menschliche Verstand«, flüsterte Pearce, »ist immer noch die beste Diagnostiziermaschine. Und das beste Antibiotikum. Ich habe sie berührt. Ich habe ihnen geholfen, sich selbst zu heilen. So bin ich statt einem Techniker ein Heilender geworden. Unsere Körper wollen sich selbst heilen, verstehen Sie, aber unser Verstand erteilt Gegenbefehle und Todesanweisungen.«
    »Medizinmann!« sagte Harry verächtlich.
    »Ja. Es hat sie immer gegeben. Heilende. Erst in meiner Zeit wurden die Heilende und der Arzt zwei Personen. Zu allen anderen Zeiten waren die Menschen mit der heilenden Berührung die Ärzte. Es gab sie damals, es gibt sie jetzt. Zahllose Heilungen zeugen dafür. Heute bezeichnen wir das als Aberglauben. Trotzdem wissen wir, daß manche Ärzte, die weder klüger noch geschickter sind als andere,
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