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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow
Autoren: Andrej Kurkow
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erst dann, dass er den Brief noch in der Hand hielt.
    Schnell schob er den Brief in die Hosentasche, knipste das Licht aus und ging hinaus.
    Am meisten fürchtete er jetzt, mit dem Gärtner zusammenzustoßen. Aber Stepan war nicht im Hof. Der Lärm, der Igor erschreckt hatte, kehrte wieder. Es war der Nachbar, der mit der Motorsäge einen alten Kirschbaum zerlegte, sich mit Holz für den Winter versorgte. Das Brennholz brauchte er für die Sauna, nicht zum Heizen, sein Haus hatte, wie auch das Igors und seiner Mutter, einen Gaskessel.
    »Wie geht’s, wie steht’s?«, rief der Nachbar Igor zu und hob seine Säge von dem Stamm der schon gefällten Kirsche.
    »Alles klar«, antwortete Igor laut. »Alles in Ordnung!«
    »Ja, bis jetzt ist alles in Ordnung. Aber ab nächster Woche wird es kälter«, verkündete der Nachbar und nahm seine Arbeit wieder auf. Die Säge kreischte wieder los.
    Igor nickte und ging eilig ins Haus.
    »Wie geht es Stepan, friert er nicht?«, fragte die Mutter, als sie den Sohn kommen sah.
    »Er ist gar nicht da, er ist weggegangen. Schon gestern, wie es scheint!«
    Zu Igors Erstaunen reagierte Elena Andrejewna überhaupt nicht auf das Verschwinden des Gärtners. Wobei, überlegte Igor, was war das auch für ein Verschwinden, wenn seine Sachen dageblieben waren?
    Und er beruhigte sich. Zu seiner Freude merkte er, dass [24] das Kopfweh verflogen war, und er goss sich noch einen Becher Tee ein.
    Elena Andrejewna kam drei Minuten später wieder in die Küche, jetzt fein zurechtgemacht.
    »Wenn er wiederkommt, sag ihm, dass er die Kartoffeln noch mal ausliest. Und er kann sie schon langsam in den Keller runterschaffen.«
    »Wohin gehst du?«, erkundigte sich Igor.
    »Auf die Post, für die Rente, und danach zum Schuster, es wird Zeit, dass er die Winterstiefel flickt.«
    Igor folgte seiner Mutter mit dem Blick, das Küchenfenster ging direkt aufs Gartentörchen hinaus. Dann zog er den Umschlag aus der Hosentasche. Eine Glückwunschkarte zum Neuen Jahr steckte darin: »Lieber Papa! Möge das neue Jahrtausend Glück und Freude in Dein Leben bringen! Bleib gesund! Deine Aljonka.«
    Igor senkte den erstaunten Blick von der Karte auf den Umschlag. Absender: Sadownikowa Aljona, Lwow, Grüne Straße 271.
    Empfänger: Sadownikow Stepan Josipowitsch, Kiewer Gebiet, Browary, Matrosow-Straße 14.
    ›Sadownikow arbeitet als Gärtner?!‹ Igor lächelte. ›Sadownik‹ war das russische Wort für Gärtner.
    Er trank seinen Tee, sah wieder aus dem Fenster und bemerkte, wohl zum ersten Mal, die gelb gewordenen Blätter der jungen Apfelbäumchen, die sie vor drei Jahren vors Haus gepflanzt hatten. In den Zweigen der Bäumchen hingen rote Äpfel, eine Wintersorte. Solche lagert man ein, die halten sich auch bis April unversehrt und frisch.
    Am Himmel flogen halbdurchsichtige Wolkenfetzen. Hin [25] und wieder drangen weder sehr helle noch warme Sonnenstrahlen hindurch und fielen auf die herbstliche Erde.
    Igor war es nach einem Spaziergang. Aber zuerst schrieb er sich beide Adressen auf einen Notizblock und legte den Umschlag mit der Postkarte wieder an seinen Platz, in die Schachtel mit dem Elektrorasierer.
    Ein kühler Wind wehte ihm ins Gesicht. Igor ging bis zum Busbahnhof, nahm am Kiosk für eine Griwna einen Kaffee ›Drei-In-Eins‹ und blieb dort gleich stehen. Der dünne Wegwerfbecher brannte angenehm an den Fingern. Jetzt hieß es drei, vier Minuten warten und erst dann trinken. Gleichmütig folgte Igor den vorüberfahrenden Autos mit dem Blick.
    Am Busbahnhof hielt der Kleinbus aus Kiew. Igor betrachtete die aussteigenden Passagiere, und plötzlich erblickte er unter ihnen Stepan. Stepan stieg vom Trittbrett des Busses, blieb stehen, holte eine Zigarette heraus und steckte sie an. Er sah nachdenklich aus, sogar bedrückt. Ein paarmal schüttelte er betrübt den Kopf, seine Mundwinkel hingen herunter. Als er zu Ende geraucht hatte, warf er die Kippe auf den Boden, trat sie mit der Stiefelspitze aus und machte sich auf den Weg zu ihrem Haus.
    Igor trank ohne Hast seinen ›Drei-In-Eins‹ und ging dann ebenfalls nach Hause. Unterwegs fiel ihm ein, dass er die Wurstbrote und den Teebecher im Schuppen hatte stehenlassen. Der Tee war natürlich längst kalt. Er würde Stepan gleich frischen kochen und ihm bringen. Und die Wurstbrote, was sollte aus denen schon in ein, zwei Stunden werden? Hauptsache, die Mäuse hatten sie nicht gefressen!
    [26] Zwanzig Minuten später klopfte Igor mit einem Becher heißem Tee
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