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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow
Autoren: Andrej Kurkow
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auf die Teller.
    »Bedienen Sie sich«, sagte sie zu Stepan und deutete mit dem Kinn auf den Wodka.
    »Danke, ich trinke nicht«, sagte er leise.
    »Vielleicht Wein?« Sie sah ihn freundlich an.
    »Für mich überhaupt lieber ohne Alkohol«, sagte Stepan ein wenig lauter. »Ich habe, wie man so sagt, mein Fass längst ausgetrunken! Das Gleichgewicht von Körper und Geist ist mir jetzt wichtiger…«
    Igor wiegte erstaunt den Kopf: Eine schöne Ausdrucksweise war das! Genau wie ihr Bekannter, der Baptist, der drei Häuser weiter wohnte.
    Elena Andrejewna brachte ein Literglas mit Kirschenkompott vom letzten Jahr.
    »Gießen Sie sich nur selber ein«, bat sie Stepan.
    Ruhig goss Stepan sich ein und wandte sich dann zu Igor. Igor hielt sein Glas hin. Elena Andrejewna hingegen beschloss, sich trotzdem ein bisschen hausgemachten Wein zu gönnen.
    Nachdem sie allen einen guten Appetit gewünscht hatte, widmete sie sich ihrem Teller und sah nur manchmal aus dem Augenwinkel nach, ob die Männer auch mit Genuss aßen.
    »Also fahrt ihr für lange?«, fragte sie nach einer Pause.
    [30] »Na, ein paar Tage bleiben wir schon«, Igor zuckte die Achseln. »Wir rufen dich an!«
    Ihr Blick heftete sich auf Stepan, der plötzlich nervös wurde, sich mit der Hand über die frischrasierten Wangen strich.
    »Ich arbeite es anschließend ab, nicht dass Sie denken…«, sagte er. »Also, falls wir länger bleiben müssen…«
    »Ach, nicht doch.« Elena Andrejewna winkte ab. »Das meine ich ja nicht. Es ist nur traurig, allein im Haus…«
    Am nächsten Tag nach dem Mittagessen fuhren Stepan und Igor im Kleinbus Richtung Kiew. Zu Füßen des Gärtners stand sein halbleerer Rucksack. Auf Igors Knien lag seine Tasche, dazu sein Pullover und ein Esspaket, das Elena Andrejewna ihnen für die Reise gepackt hatte. Im Kleinbus sang laut Radio Chanson.
    Igor sah kurz hinüber zu Stepan, der am Fenster saß. »Und wo übernachten wir dort?«, fragte er ihn.
    Der Gärtner zuckte mit den Schultern. »Wir finden etwas! Übernachten ist kein Problem. Die Hauptsache ist Hinkommen.«
    Nachdem sie in dem Glaskasten auf dem Bahnhofsvorplatz jeder ein Glas Tee getrunken hatten, saßen sie noch zwei Stunden auf einer harten Bank des Wartesaals.
    Endlich rief man ihren Zug aus. Stepan schwang den Rucksack über die Schulter und sah sich nach Igor um.
    Ihr Abteil war noch leer, als sie eintraten.
    ›Wenn man nur so zu zweit reisen könnte‹, dachte Igor, während er seine Tasche unter das Tischchen schob.
    Leider erfüllten Igors Hoffnungen sich nicht. Schon drei Minuten später fielen in ihr Abteil zwei Dienstreisende ein, [31] beide um die vierzig. Sie baten Igor aufzustehen und zwängten zwei identische Koffer in den leeren Raum unter der unteren Pritsche. Eine voluminöse Tasche mit klirrenden Flaschen stellten sie auf den Boden.
    »Also, Leute, ihr fahrt bis Nikolajewo?«, fragte der eine.
    Stepan nickte.
    »Na, dann wird uns nicht langweilig!«, versprach der Dienstreisende. »Unser Bier reicht für alle, und reicht es nicht, kann man bei den Schaffnern auch Stärkeres beschaffen! Ich kenne hier alle beim Vornamen.«
    Igor entging nicht, wie Stepan finster geworden war und sich zum Fenster gewandt hatte.
    Die Dienstreisenden zogen flink aus ihrer Tasche vier, fünf Flaschen Bier, eine Halbliterflasche ›Nemirow‹-Wodka, eine Stangenwurst, ein Brot und einen Beutel mit Salzgurken. Im Abteil roch es sofort nach Volkskantine.
    »Hör mal, hol uns doch Gläser beim Schaffner!«, bat der zweite Dienstreisende Igor.
    »Aber wir müssen doch sitzen bleiben, bis er die Fahrkarten kontrolliert.«
    Der Mann kniff listig die Augen zusammen. »Keine Angst, er ist noch draußen, und die Fahrkarten kontrolliert er, wenn der Zug losfährt!«
    Widerstrebend machte Igor sich auf zu dem Dienstabteil. Die Tür war offen, drinnen war niemand, und Igor nahm vier Gläser vom Regal.
    »Na siehst du, und du sagst, er kontrolliert Fahrkarten!«, sagte der zweite Dienstreisende erfreut.
    Plötzlich schien es Igor, die beiden müssten Brüder sein, so sehr glichen sie sich in ihrer Unauffälligkeit und dem [32] Fehlen jeglicher Merkmale in den Gesichtern. Beide waren schnurrbärtig, beide hatten je ein Paar Augen und Ohren, Nase und Mund. Das war’s! Und ihre Gesichtszüge wirkten so eigenschaftslos, als hätte man sie operiert und alles aus ihnen entfernt, woran der Blick hätte haften bleiben können. Oder war es das Resultat ständiger Dienstreisen mit chronisch kurzen,
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