Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
Schicksal der beiden entschieden hatte, rief er sich Aljona, die Tochter des Gärtners, ins Gedächtnis. Und mit dem Gedanken an sie schlief er ein.
    30
    Ein lautes Husten ganz in der Nähe weckte Igor. Er schlug die Augen auf und streckte die Hand zur Lampe auf dem Nachttisch aus.
    [334] Ihr gedämpftes Licht stach nicht ins Auge, es schob einfach das frühmorgendliche Grau durch das Fenster nach draußen. Igor lag in seinem Zimmer. In der Ecke, auf der Matratze, schlief Koljan. Er hatte aufgehört zu husten, lag aber unruhig da und röchelte öfter leise. Neben seinem Kopf auf dem Boden stand ein Glas von Elena Andrejewnas Kräuterschnaps. Etwas weiter weg, an der Wand, standen zwei leere Flaschen und eine angebrochene.
    Igor setzte sich auf. Sein Kopf dröhnte, aber sobald sein Blick an Koljan hängenblieb, zog sich das Dröhnen zurück. Verworrene Gedanken und deutliches Mitleid traten an seine Stelle. Koljan tat Igor leid. Sehr stark war Igors Mitleid nicht, Koljan verdiente eindeutig mehr Bedauern, größeres Mitgefühl. Sein Hacker-Talent hatte sich als Bumerang erwiesen und ihm zur Erinnerung ein GSHT und echte Lebensgefahr eingebracht. Jetzt musste er sich bereitmachen für den Übergang in eine andere Wirklichkeit, die nicht viel humaner war als diese. Sie war einfach anders. Alles war dort anders, auch die Bedrohungen und Gefahren. Aber Igor verspürte auch leisen Neid. Sehr leisen, der dennoch Aufmerksamkeit verdiente. Wenn das Bild, das Igor von Koljans und Waljas glücklicher Zukunft entworfen hatte, sich in ein Hochzeitsfoto verwandelte, geschossen von Wanja, ihrem Hochzeitsfotografen, dann war ihr Glück am Ende viel süßer als Igors verschwommenes und bisher nur imaginäres eigenes Glück. Sich Koljans und Waljas Glück vorzustellen war viel leichter, an seine Wirklichkeit konnte man mühelos glauben. Das Thema seines eigenen Glücks hatte Igor so gründlich noch nicht ausgesponnen. Vielleicht war es Zeit, damit anzufangen?
    [335] Er gab sich einen Ruck, schob das virtuelle Porträt von Walja mit den feurigen, frechen Augen beiseite und stellte sich ein kleines Foto von Aljona vor. Aljona auf seinem Foto war still und wollte nicht mit der resoluten Fischverkäuferin konkurrieren. Aljona gehörte zu den Gärtnern, den Arbeitsamen, Stillen, Bescheidenen. Walja war Försterin. Das half Igor, die beiden Welten in seinem Bewusstsein ins Gleichgewicht zu bringen. Und so benannte er sie für sich ganz leicht und natürlich ›Welt der Förster‹ und ›Welt der Gärtner‹. Der Neid auf Koljan verschwand, genau wie das Mitleid mit ihm. Koljan war auch ein Förster, in der ›Welt der Förster‹ würde es ihm nicht schlechter ergehen als hier!
    Als hätte Koljan gespürt, dass man über ihn nachdachte, drehte er sich auf die Seite und wandte Igor sein Gesicht zu. Er hob den Kopf ein wenig, streckte die Hand nach dem Glas aus. Er leerte es und bemerkte, als er es zurückstellte, Igor und die brennende Nachttischlampe.
    »Schon wieder da?«, fragte er heiser.
    Igor nickte.
    »Und wann…?«
    »Heute Abend.«
    Morgens, nachdem er mit Koljan auf dem Boden gefrühstückt hatte, Buchweizengrütze und Würste, begab Igor sich wieder zu Stepan, um zu helfen. Stepan war guter Laune. Bei der Arbeit sang er marschähnliche Lieder vor sich hin. Aljona kochte ihnen ein leckeres Mittagessen, worauf sie sich wieder im ersten Stock des Neubaus an die Arbeit machten.
    »Und was kommt hier rein?«, fragte Igor und wies mit dem Kopf zu den kleinen Zimmern im ersten Stock, die sie [336] schon vollständig von Müll und Baumaterialresten befreit hatten.
    Gerade ging Aljona mit Eimer und Putzlappen in eines der Zimmer und begann das neue, aber schmutzige und mit Baustaub bedeckte Parkett zu scheuern.
    »Die Schlafzimmer«, antwortete Stepan. »Unten kommt das Café hinein, und oben wohnen die Hausherren.«
    »Vier Schlafzimmer?«, fragte Igor erstaunt. »Dann ist da ja noch das alte Haus…«
    »Das alte Haus ist für den alten Hausherrn, für mich.« Stepan lächelte. »Das neue ist für die neue Hausherrin und ihre Familie. Übrigens wollte ich dir ernsthaft etwas antragen…«
    Igor erstarrte und sah dem Gärtner aufmerksam ins Gesicht. Er dachte daran, wie er von seiner Mutter fast eine Ohrfeige bekommen hätte dafür, dass er die verschiedenen Anträge nicht unterscheiden konnte. Dieser hier war gerade »ernsthaft« genannt worden.
    »Sie tragen mir an, Cafégeschäftsführerstellvertreter zu werden?«, fragte Igor ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher