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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow
Autoren: Andrej Kurkow
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blieben offen. Igor kauerte sich neben ihn. Tschagins Pupillen waren erstarrt. Igor hob seine von den aufgeplatzten Blasen immer noch schmerzende Hand an Fimas geöffneten Mund. Fima atmete nicht mehr.
    [331] Igor packte den Messergriff und zog daran, in der Hoffnung, dass der jetzt abbrechen und die Schneide im Körper zurücklassen würde. Aber der Griff gab nicht nach. Er hing fest an der Klinge.
    Igor stand auf. Er blickte zur offenen Tür, hinter der Licht im Wohnzimmer brannte, ging hinein und sah, womit Fima bei seinem Auftauchen beschäftigt gewesen war. Auf dem ovalen Tisch lagen acht Päckchen sowjetischer Hundertrubelscheine, mit Banderolen versehen. Daneben ein weißer Leinenbeutel und ein dicker Kopierstift. Auf dem Beutel war schon mit diesem Stift geschrieben: »J.S.S. Holt es 1961. Er oder sein S…«
    »Er oder sein S…«, las Igor laut und versuchte zu verstehen, bei welchem Wort er Fima wohl unterbrochen hatte. »Er oder sein S-S-Sohn!«, erkannte Igor erfreut.
    »Sohn… Josip oder sein Sohn? Dafür also hat sein Vater Stepan die Tätowierung gemacht! Eine ganz schön langsame Post! Eine ganz schön langsame Überweisung… Die kriminelle Version von Western Union!«
    Igor legte alles Geld in den weißen Beutel und sah sich um. Er fühlte sich fast wie zu Hause. Denn dieses Zimmer kannte er gut. Dort, gegenüber dem Fenster, im Büfett, im oberen Teil hinter der Tür mit den dicken Schmuckscheiben, standen Wasser- und Schnapsgläser. Irgendwo standen auch Flaschen. Aber jetzt wollte Igor nicht trinken.
    Was hatte damals die alte Frau in Otschakow gesagt, in deren Hinterhäuschen er und Stepan übernachtet hatten? Dass man Fima erstochen gefunden hatte, und neben ihm zwei Päckchen Geld und einen Zettel: »Für ein prächtiges Begräbnis«?
    [332] Igor nahm den Stift, trat ans Büfett und zog die obere Schublade auf. Zwischen allerhand Kleinkram, Postkarten und Schächtelchen mit Angelhaken, sah er drei leere Vordrucke einer »Vorladung zur Miliz«.
    »Interessant!«, entfuhr es Igor.
    Er nahm einen Vordruck und drehte ihn um. Die Rückseite war leer. Er legte sie vor sich auf den Tisch, beugte sich darüber und schrieb sorgfältig: »Für ein prächtiges… Begräbnis«.
    Igor kehrte zu der Leiche zurück, zog zwei Rubelpäckchen aus dem Beutel, legte sie neben Fimas Kopf und den Zettel auf seine Brust.
    »Jetzt gibt es einen Förster weniger«, flüsterte er und betrachtete den toten Tschagin ganz ruhig, wie Gras oder einen Stein.
    Draußen war es kälter geworden. Auf dem Rückweg schien es Igor ein paarmal plötzlich, als hätte er etwas vergessen, als fehlte etwas in seiner Hand. Und jedes Mal fiel ihm ein, dass das Messer fehlte. Und er beruhigte sich.
    Leichtes Bedauern weckte der Griff, der nach dem Zustechen nicht abgebrochen war, aber auch dieses Bedauern wurde letzten Endes von einem einfachen Gedanken ausgewischt: ›Ich habe ihn wie ein Gärtner erstochen, nicht wie ein Förster. Solche Messer, ob angefeilt oder nicht, wird es in meinem Leben nicht mehr geben. In meinem Leben gibt es jetzt nur noch Schönes!‹
    Und das Wort »schön« schickte seine Gedanken weiter, zur roten Walja. Er hätte sie gern gesehen, selbst in Trauer. Er hätte sie gern getröstet, denn man hatte sie des Mitleids mit ihrem Mann beraubt, und ihr Mitleid war stärker als jede [333] Liebe gewesen! Sie war jetzt bestimmt zu Hause, allein. Schlief oder weinte… Nein, er würde sie nicht wiedersehen! Er würde nicht mehr hierher zurückkehren. Dafür konnte er ihr eine Nachricht oder sogar Geld zukommen lassen! Ja, er würde Koljan bitten, bei ihr vorbeizugehen, sich mit ihr bekannt zu machen. Vielleicht verliebte Koljan sich sogar in sie und ersetzte ihr ihren Mann, ersetzte ihr den Fischer, der ihre Lieblingstätigkeit ermöglichte – den Fischverkauf auf dem Markt! Vielleicht würde sie Koljan nicht weniger bemitleiden als ihren ermordeten Mann. Und Koljan würde es mit diesem starken Mitleid hundertmal besser ergehen als mit ihrer Liebe!!
    Igor blieb am Gartentor stehen, trat ein und hinderte es am Zufallen, öffnete vorsichtig die nur angelehnte Haustür und ging in Stiefeln bis in das Zimmer mit dem alten Sofa. Er zog Stiefel und Kleider aus, legte sich hin und deckte sich sorgsam mit der auf dem Hocker bereitliegenden Decke zu.
    Beim Einschlafen noch dachte er an Walja und Koljan, ihm war, als müsste, weil er sie in seiner Vorstellung verlobte, alles unweigerlich mit einer Hochzeit enden. Nachdem er das
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