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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Autoren: Mohsin Hamed
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liegen – das überfüllte, labyrinthartige Herz der Stadt –, ist Lahore demokratischer und urban . Dort nämlich ist der Mensch mit vier Rädern gezwungen auszusteigen und Teil der Menge zu werden.
    Wie Manhattan? Ja, genau! Und das war auch einer der Gründe, weshalb der Umzug nach New York – ganz unerwartet – so etwas wie eine Heimkehr war. Aber es gab auch noch andere Gründe: dass Taxifahrer Urdu sprachen, dass es nur zwei Blocks von meiner Wohnung im East Village ein Lokal namens Pak-Punjab Deli gab, wo man Samosa und Channa servierte, dass ich zufällig über die Fifth Avenue ging und aus Lautsprechern, die auf einem Festwagen der South Asian Gay and Lesbian Association standen, ein Lied hörte, zu dem ich auf der Hochzeit meines Vetters getanzt hatte.
    In einem U-Bahn-Wagen fiel meine Haut normalerweise in die Mitte des Farbenspektrums. An Straßenecken fragten mich Touristen nach dem Weg. In den viereinhalb Jahren war ich nie Amerikaner, aber sofort New Yorker. Wie? Warum ich meine Stimme hebe? Sie haben recht, ich werde leicht emotional, wenn ich an diese Stadt denke. Sie nimmt noch immer einen Platz von großer Zuneigung in meinem Herzen ein, was schon einiges ist, wenn man die Umstände bedenkt, unter denen ich nach nur acht Monaten von dort fortzog.
    Sicher hatte viel von New Yorks Faszination mit meiner Begeisterung für Underwood Samson zu tun. Ich erinnere mich noch, wie ich staunte, als ich dort den Dienst antrat. Die Büroräume lagen im 41. und 42. Stockwerk eines Hochhauses in Midtown – höher als die beiden höchsten Gebäude hier in Lahore, wenn man sie übereinanderstapeln würde –, und obwohl ich schon vorher im Flugzeug geflogen und im Himalaya gewesen war, hatte nichts mich auf das Drama, die Wucht des Ausblicks von ihrem Vorzimmer vorbereitet. Da wurde mir bewusst, dass es eine andere Welt als Pakistan war; meine Füße wurden von den Errungenschaften der technisch fortgeschrittensten Zivilisation getragen, die unsere Spezies je gekannt hatte.
    Während meines Aufenthalts in Ihrem Land bedrückten mich solche Vergleiche häufig. Eigentlich mehr als das: Ich ärgerte mich darüber. Vor viertausend Jahren hatten wir, die Menschen vom Indus-Becken, Städte, die als Gitter angelegt waren und ein unterirdisches Abwassersystem vorweisen konnten, während die Vorfahren derer, die in Amerika einfielen und es kolonisierten, noch Barbaren waren und nicht einmal lesen und schreiben konnten. Und nun waren unsere Städte weitgehend ungeplant und unhygienisch, und Amerika hatte Universitäten mit Stiftungsfonds, die jeweils größer waren als unser nationaler Bildungsetat. An diese gewaltige Ungleichheit erinnert zu werden weckte Scham in mir.
    Aber nicht an jenem Tag. An jenem Tag sah ich mich nicht als Pakistani, sondern als Trainee bei Underwood Samson, und die imposanten Büroräume meiner Firma machten mich stolz . Ich wünschte, ich könnte sie meinen Eltern und meinem Bruder zeigen! Ich stand reglos da und sog alles auf, aber nicht lange; bald nach unserem Eintreffen wurden wir Beraterneulinge zu unserer Orientierungspräsentation in einen Konferenzraum geführt. Dort skizzierte uns ein Vizepräsident namens Sherman – sein Schädel glänzte frisch rasiert – das Ethos unserer neuen Organisation.
    »Wir sind eine Meritokratie«, sagte er. »Wir glauben daran, die Besten zu sein. Sie waren die besten Kandidaten von den besten Schulen des Landes. Deshalb sind Sie hier. Aber die Meritokratie endet nicht mit der Einstellung. Wir werden Sie alle sechs Monate einstufen. Sie werden Ihr Ranking erfahren. Ihre Prämien und Ihr Staffing hängen davon ab. Arbeiten Sie gut, werden Sie belohnt. Wenn nicht, sitzen Sie vor der Tür. So einfach ist das. Ihr erstes Ranking werden Sie am Ende dieses Trainingsprogramms erhalten.«
    Wirklich einfach. Ich schaute mich verstohlen um, um zu sehen, wie meine Trainee-Kollegen darauf reagierten. Außer mir waren es noch fünf, und vier saßen starr und steif da; der fünfte, ein Bursche namens Wainwright, wirkte entspannter. Er drehte seinen Füller in einer Weise zwischen den Fingern, die mich an Val Kilmer in Top Gun erinnerte, beugte sich zu mir und flüsterte: »Der Zweite kriegt null Punkte, Maverick.« »Du bist gefährlich, Ice Man«, antwortete ich und versuchte dabei, den schleppenden Tonfall eines Marinefliegers halbwegs zu treffen, dann grinsten wir einander an.
    Doch abgesehen von solch unbeschwertem Geplänkel ging es am Arbeitsplatz nicht eben
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