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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Autoren: Mohsin Hamed
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bot, also gingen wir allein zur Straße und nahmen den Bus. Als wir so nebeneinandersaßen, fiel mir natürlich auf, dass ihr nacktes Bein keine zwei Zentimeter von meiner Hand entfernt war, die auf meinem Schenkel lag.
    Es ist doch auffallend, wie viel empfänglicher man hier in Pakistan für den Anblick eines Frauenkörpers ist. Finden Sie nicht? Der Bärtige da, Sir, der noch immer von Zeit zu Zeit Ihre misstrauischen Blicke auf sich zieht, schaut sich ständig nach diesen Mädchen um, die fünfzig Meter von ihm entfernt sind. Dabei zeigen sie nur das Fleisch von Hals, Gesicht und den unteren drei Vierteln der Arme! Es ist der Effekt der Knappheit; die Anstandsregeln sorgen dafür, dass man nach dem Ungehörigen lechzt . Ist man zudem derart sensibilisiert, stumpft man nur langsam ab, wenn überhaupt; als ich in Griechenland Ferien machte, hatte ich schon vier Jahre in Amerika gelebt und alle Vertraulichkeiten kennengelernt, die Studenten gemeinhin erleben, und dennoch nahm ich sichtbare weibliche Haut nach wie vor deutlich wahr.
    Um mich nicht weiter unhöflich auf Ericas weizenfar-bene Gliedmaßen zu konzentrieren, fragte ich sie, ob sie das Hemd von ihrem Vater habe. »Nein«, sagte sie und rieb den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger, »das hat mal meinem Freund gehört.« »Ach«, sagte ich. »Ich habe nicht gewusst, dass du einen Freund hast.« »Er ist letztes Jahr gestorben«, sagte sie. »Er hieß Chris.« Ich sagte, das tue mir leid und dass es ein schönes Hemd sei, Chris habe einen hervorragenden Geschmack gehabt. Sie stimmte mir zu und meinte, er sei ein richtiger Dandy gewesen und ziemlich eitel, sogar noch im Krankenhaus. Die Krankenschwestern seien von ihm ganz bezaubert gewesen: Er habe sehr gut ausgesehen und einen, wie sie es nannte, alteuropäischen Reiz ausgeübt.
    In der Stadt fanden wir dann nahe am Hafen ein Café, dessen Tische im Schatten blau-weißer Schirme standen. Sie bestellte ein Bier, ich tat es ihr nach. »Wie ist denn Pakistan so?«, fragte sie. Ich sagte, Pakistan sei vieles, Küste, Wüste und auch Ackerland, das sich zwischen Flüssen und Kanälen erstrecke; ich erzählte ihr, ich sei mit meinen Eltern und meinem Bruder auf der Karakorum-Straße nach China gefahren und dabei durch Täler gelangt, die höher als die Gipfel der Alpen seien; ich erzählte ihr, Alkohol sei für Muslime verboten, daher hätte ich einen christlichen Schwarzhändler gehabt, der mir welchen mit seinem Suzuki-Pick-up ins Haus gebracht habe. Sie hörte mir aufmerksam zu, wobei sie zwischendurch immer wieder lächelte, als nippte sie an meinen Beschreibungen und fände sie schmackhaft. Dann sagte sie: »Du vermisst dein Zuhause.«
    Ich zuckte die Achseln. Tatsächlich vermisste ich es oft, aber in jenem Moment hätte ich nirgendwo anders sein wollen. Sie zog ihr Notizbuch hervor – es war in weiches, orangefarbenes Leder gebunden; ich hatte davor schon gesehen, wie sie in ungestörten Augenblicken der Stille darin geschrieben hatte –, reichte es mir zusammen mit einem Bleistift und sagte: »Wie sieht eure Schrift aus?« Ich sagte: »Urdu ist dem Arabischen ähnlich, aber wir haben mehr Buchstaben.« Sie sagte: »Zeig mal«, also schrieb ich etwas. »Das ist wunderschön«, sagte sie und sah mir in die Augen. »Was bedeutet es?« »Das ist dein Name«, antwortete ich, »und das darunter ist meiner.«
    Wir blieben an unserem Tisch und redeten, während die Sonne unterging, und sie erzählte mir von Chris. Sie waren zusammen aufgewachsen – in gegenüberliegenden Wohnungen, Kinder im selben Alter, ohne Geschwister – und waren lange vor ihrem ersten Kuss beste Freunde gewesen; der kam, als sie sechs waren, wurde aber erst mit fünfzehn wiederholt. Er hatte eine Sammlung europäischer Comics, nach denen sie ganz verrückt waren, und sie verbrachten Stunden damit, sie zu Hause zu lesen und eigene zu machen: Chris zeichnete, Erica schrieb. Sie wurden beide in Princeton angenommen, aber er ging nicht hin, weil man bei ihm Lungenkrebs feststellte – er hatte eine Zigarette geraucht, sagte sie lächelnd, aber erst an dem Tag, nachdem er die Ergebnisse seiner Biopsie erhalten hatte –, und sie sorgte dafür, dass sie nie freitags Unterricht hatte, damit sie drei Tage die Woche bei ihm in New York sein konnte. Er starb drei Jahre später, am Ende des Frühjahrssemesters ihres vorletzten Jahres. »Ich vermisse also auch irgendwie mein Zuhause«, sagte sie, »nur dass mein Zuhause ein Typ mit langen, dünnen
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