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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Widerschein des Blutes, das sein Gehirn überschwemmt hatte. Die Augen auf die Stufen gerichtet, sehend ohne hinzusehen, murmelte Ricciardi gemeinsam mit dem toten Polizisten leise: »Maria, oh Gott, Maria«, und es klang wie das Ende eines altbekannten Witzes.

    Am Abendbrottisch diskutierten Enricas Vater und ihr Schwager wie üblich über Politik. Die Familie war es mittlerweile gewohnt: Sowohl Enrica, die älteste Tochter, als auch ihre Mutter und Geschwister hatten eingesehen, dasses unmöglich war, ihren Redeschwall zu bremsen, und auch nicht, sich einzumischen oder das Thema zu wechseln; lieber aß man, als ob nichts wäre, und ließ sie ihr Gespräch später neben dem Radio fortsetzen. Den ganzen Tag lang fieberte Enrica diesem Augenblick entgegen, ja sie träumte sogar nachts davon, war voller Sehnsucht und Ungeduld. Mit der Zeit hatte sie einiges Geschick darin entwickelt, so zu tun, als ob sie der Diskussion folgen würde, während sie in Wahrheit ihren eigenen Gedanken nachhing. Sie konnte es kaum erwarten, dass das Abendessen zu Ende sein würde und alle ins Esszimmer gingen, um sie in Ruhe spülen zu lassen. Sie tat das sehr gern. Eigensinnig, introvertiert und empfindsam, wie sie war, doch oft mit einem Lächeln auf den Lippen, hatte sie immer schon Wert auf Ordnung und Genauigkeit gelegt. Sie räumte gern auf und mochte eine klare Rollenverteilung, und die Küche war ihr eigenes kleines Reich. Hilfe wollte sie nicht, sie wollte niemanden um sich herum haben.
    Und außerdem hatte sie eine Verabredung.
VIII
    Ricciardi aß und Tata Rosa sah ihm dabei zu. So war es jeden Abend. »Was führen Sie bloß für ein Leben? Sehen Sie nur, gestern noch beim Friseur und schon wieder die Haare in den Augen. Und blass sind Sie wie ein Gespenst«, Ricciardi verzog das Gesicht, »gehen Sie denn nie an die Sonne? Heute weht ein wunderbares Lüftchen vom Capodimonte, sind Sie wenigstens ein bisschen draußen vorm Präsidium gewesen? Nein, oder? Hab’ ich mir schon gedacht. Ach, was soll ich bloß machen, alt wie ich bin, wie soll ich das Zeitliche segnen,wenn ich weiß, dass ich Sie hier allein zurücklasse? Können Sie nicht ein nettes Mädchen heiraten, dann bringt Ihr mich ins Altenheim und ich kann in Frieden sterben?«
    Ricciardi stimmte feierlich zu, indem er ab und zu von seinem Teller aufsah, um zum Ausdruck zu bringen, wie nahe ihm das Unglück seiner Kinderfrau ging, der das schreckliche Los zugefallen war, sich um ihn kümmern zu müssen. In Wahrheit hatte er überhaupt nicht zugehört. Trotzdem hätte er die Litanei wortgetreu wiedergeben können, da er sie tausend Mal gehört hatte. Er dachte, wie üblich, an anderes und hielt es mit Tata Rosa wie mit dem Regen: Man wartet einfach, bis er aufhört, und versucht, dabei so wenig wie möglich nass zu werden. Hätte er sie unterbrechen wollen, hätte er den ganzen Abend gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass sein Leben genau so war, wie er es sich wünschte.
    Und außerdem hatte er eine Verabredung.

    Aus den Augenwinkeln sah Enrica das Licht hinter dem Fenster auf der anderen Seite der schmalen Gasse schimmern. Fünf Meter Abstand waren es bis dahin, wenn überhaupt: Eine Berechnung, die sie schon tausend Mal angestellt hatte. Und maximal ein Meter nach oben. Eine Entfernung, die ihr unendlich schien. Gegen nichts auf der Welt hätte sie die kurze Wartezeit eingetauscht, jene Minute, die zwischen dem Zeitpunkt lag, zu dem das Licht anging, und dem Augenblick, in dem sein Profil sich hinter der Scheibe abzeichnete. Es war, wie ein Fenster zu öffnen und auf den Luftzug im Gesicht zu warten, wie Durst zu haben und sich das Glas zum Mund zu führen. Bis er dann im Gegenlicht erschien, die Arme verschränktoder seitlich herabhängend, hin und wieder mit den Händen in den Taschen. Völlig reglos. Keinerlei Bewegung ging von ihm aus, kein Zeichen, nicht der kleinste Versuch einer Kontaktaufnahme, abgesehen von der Tatsache, da zu sein, jeden Abend um Punkt halb zehn. Nie und nimmer hätte sie die Zeit versäumt. Und in aller Ruhe, der ihr eigenen Ruhe, spülte sie mit sanften Bewegungen zu Ende, setzte sich dann auf den Sessel neben der Fenstertür der Küche, nahm ihren Stickrahmen oder das Buch zur Hand, das sie gerade las. Eingehüllt vom Blick des anderen, lächelte sie und wartete.

    Ricciardi sah ihr beim Sticken zu. Und beim Zusehen sprach er zu ihr, erzählte ihr von seinen Ängsten, und sie half ihm, das Gewirr seiner Gedanken zu lösen. Es war
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