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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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knallte an die Fensterscheibe, was in dieser Stille einer Explosion gleichkam. Emma wurde bewusst, dass sie die Hand an den Hals gelegt hatte, sie spürte den heftigen Pulsschlag. Ihre Füße waren eiskalt. Noch eine Karte, die vierte: Schwert Fünf.Der Ausdruck der Alten veränderte sich nicht, aber ihre Hand zitterte.
    Mit der Zeit hatte Emma gelernt, welche Karte für ihn stand, den Mann, den sie liebte: Das Keulen-Pferd. Diese Karte war von Anfang an stets gezogen worden, jedes Mal war sie bei den anderen Karten gewesen, die zur Flucht, zur Veränderung, zum Leben aufriefen. Warum tauchte sie diesmal, ausgerechnet jetzt, wo sie sich entschieden hatte, nicht auf?
    Die Alte drehte die letzte Karte des Stapels um, die letzte Möglichkeit. Es war weder ein Reiter noch ein König. Es war die Münzen-Zwei. Mit Entsetzen bemerkte Emma, dass aus dem Auge der Alten eine Träne floss.

    Filomena wartete darauf, dass die erste Kundin das Textilgeschäft, in dem sie arbeitete, betreten würde. Eingehüllt in ihren Mantel, das Tuch fest um den Kopf gebunden, stand sie unbeweglich an der Straßenecke, ohne auf den Wind zu achten. Der große Ofen im Laden war bestimmt schon angezündet worden. Gerne hätte sie die angenehme Wärme, die er verströmte, auf der Haut gespürt, aber sie konnte noch nicht hineingehen. Sie wusste, dass Signor De Rosa, der Eigentümer, großen Wert darauf legte, das Geschäft schon bei der Öffnung behaglich zu gestalten. Er war nämlich überzeugt, dass die fröstelnden Kundinnen dann noch lieber hereinkommen würden, um sich umzusehen und folglich auch etwas zu kaufen.
    Doch sie wusste auch, dass Signor De Rosa, über fünfzig und bereits Großvater, sie schon seit geraumer Zeit bedrängte. Filome’, ich setz’ dich auf die Straße: Wenn du nicht nachgibst, und zwar sofort, schmeiß’ ich dich raus.Wenn du mit mir kommst, mach’ ich dich reich, du bekommst von mir Geschenke, Schmuck, alles. Du hast mich verhext, Filome’. Du hast mich um den Verstand gebracht und jetzt musst du mich heilen.
    Dort an der Straßenecke, in all ihrer von einem alten Mantel verhüllten Schönheit, stand Filomena Russo und wartete, während sie stumm vor sich hin weinte.
VII
    Ricciardi verließ sein Büro um acht Uhr abends. Es war kein guter Tag gewesen. Er hatte ihn damit zugebracht, Formulare auszufüllen, die dann bis in alle Ewigkeit von einem Tisch zum nächsten wandern würden. Oft fühlte er sich wie ein armseliger Buchhalter, dem die immer gleichen Formeln, mit denen er das Böse in ein Schema zu bringen versuchte, im Grunde ein Rätsel blieben. Als ob man Perversionen, blutrünstige Gefühle, Zorn und Hass protokollieren könnte.
    Der Korridor war dunkel, fast alle waren nach Hause gegangen. Jeden Tag war es so: Er kam als Erster und ging als Letzter.
    Er wusste, was er sehen würde: Auf der zweiten Stufe der verlassenen breiten Freitreppe standen sie Seite an Seite, einer beim anderen untergehakt wie zwei alte Freunde: Räuber und Gendarm, wie in dem Kinderspiel.
    Auf ihre Art stellten sie im Bereich der Gabe eine Seltenheit dar: Obwohl bereits zwei Jahre vergangen waren, sah Ricciardi sie noch immer, im Halbdunkel blass glänzend; vielleicht wegen des ungeheuer starken Überraschungsmoments, vielleicht, weil sie zu zweit waren. Ricciardi erinnerte sich gut an die Begebenheit, sie hattegroßes Aufsehen erregt: Ein harmloser Vorbestrafter, der wegen einer Rauferei verhaftet worden war, hatte einem der beiden Polizisten, die ihn zu seiner Zelle führten, den Revolver entwendet und sich damit in die Schläfe geschossen. Das Verhängnisvolle daran: Die Kugel hatte seinen Kopf durchbohrt und war nicht steckengeblieben, sie traf auch den Polizisten zu seiner Linken.
    Als er an dem Paar vorüberging, hörte Ricciardi zum x-ten Mal, was die beiden ohne Unterlass wiederholten. Der Vorbestrafte sagte: » Nie mehr geh’ ich da rein, nie wieder «, der Polizist: » Maria, oh Gott, Maria «. Er meinte nicht die Jungfrau Maria, sondern seine Ehefrau.
    Die rechte Seite des Kopfes des Häftlings, wo die Kugel eingedrungen war, bot ein Bild der Verwüstung: das große Loch, verbrannte Haut, die leere Augenhöhle des explodierten Auges, Hirnmasse auf der Schulter und auf dem Brustkorb. Links war nur eine kleine Wunde zu sehen, aus der das Geschoss ausgetreten war, um gleich darauf in den Kopf des Polizisten einzudringen: Dessen rechtes Auge war gerötet, als ob ihm ein kleines Insekt hineingeflogen wäre, dabei war es der
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