Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Friseur und die Kanzlerin

Der Friseur und die Kanzlerin

Titel: Der Friseur und die Kanzlerin
Autoren: Eduardo Mendoza
Vom Netzwerk:
Eingriffe gäben zu keiner Klage Anlass und die daraus resultierenden sowohl physiologischen als auch physiognomischen Störungen und Veränderungen könne man nicht als Folgeerscheinungen, sondern als echte Umgestaltungen bezeichnen. Man ließ mich zu ihr, und ich traf sie sehr munter an, ess- und redelustig, obwohl ihr beides verboten war. Die Krankenschwestern sagten mir, am Abend zuvor sei der Ehemann der Patientin gekommen und habe anfänglich großes Interesse daran bekundet, ihren Körper der Wissenschaft zu überlassen, sei es für Transplantationen, sei es zu pädagogischen Zwecken, habe das Interesse jedoch wieder verloren, nachdem ihm gesagt worden sei, hier würden Körper nur nach dem Tod des Spenders angenommen und die Spende ziehe keine finanzielle Entschädigung nach sich.
    Beruhigt, meine Schwester in guten Händen zu wissen, verließ ich das Klinikum mit dem Versprechen, bald wiederzukommen, und begab mich zur Leichenhalle, wo laut den Anwohnerinnen des Viertels die Trauerfeier von Großvater Lin stattfinden sollte. Die Nüchternheit der Zeremonie und die wenigen Teilnehmer enttäuschten mich, wo ich doch großes Gedränge und einen Aufmarsch mit Drachen, Feuerwerkskörpern und Sonnenschirmen erwartet hatte. Nach der Verabschiedung des Trauergefolges mit einem Übermaß an Verneigungen meinerseits zeigte die Uhr der Leichenhalle einige Minuten nach Mittag.
    Ein Bus, eine U-Bahn und ein Fußmarsch brachten mich zur Nr. 12 der Calle del Flabiol. Der elende Zustand des Hauses bezeugte, dass es erst vor kurzem erbaut worden war. Auf den Balkonen dieses und der angrenzenden Häuser standen Männer im Unterhemd und rauchten blöde vor sich hin. Aus den offenen Fenstern war Kindergeschrei und Tellergeklapper zu hören. Ich drückte auf einen Knopf der Gegensprechanlage, und eine Frau fragte, was ich wolle.
    «Ich bin ein Schulkamerad Ihrer Tochter, Señora», sagte ich mit der schlaffen Flötenstimme eines Jugendlichen. «Ich bringe ihr einige Bücher zurück.»
    «Und diese lächerliche Stimme?»
    «Die Hormone, Señora.»
    Die Tür ging auf, und ich trat in den Hausflur. Als ich mit dem Aufzug nach oben fuhr und mich im Spiegel betrachtete, stellte ich fest, dass meine Kleider nach den gestrigen Regengüssen um dreißig bis fünfzig Prozent eingelaufen waren. Wäre ich dick gewesen, hätte ich sie gar nicht erst zuknöpfen können, vor allem die Hose nicht, doch da ich von Haus aus mickrig bin, hatte ich die Druckstellen und Spannungen an gewissen Stellen des Körpers dem Alter und anderen Störungen zugeschrieben. Jetzt nahm mir der wenig schmeichelhafte Anblick meiner Erscheinung noch den letzten Rest Mut, den ich aufgebracht hatte, um ans Ende dieser Geschichte zu kommen.
    Der Treppenabsatz lag im Halbdunkeln, und im Gegenlicht konnte ich von der Frau, die mir die Tür öffnete, nur die Umrisse erkennen. Als sie mich erblickte und merkte, dass sie einer List zum Opfer gefallen war, seufzte sie eher resigniert als ärgerlich und sagte ruhig:
    «Ich wusste, dass du mich über kurz oder lang finden würdest. Komm rein.»
    In der winzigen Diele sah ich im Licht der Wandleuchte ihr Gesicht. In weniger als einer Sekunde erkannte ich sie wieder.
    «Emilia?», stammelte ich ebenso ungläubig wie gerührt. Doch sogleich fügte ich heftig hinzu: «Du hast dich überhaupt nicht verändert!»
    «Du dich in gewisser Hinsicht auch nicht», sagte sie mit einem Blick auf meine Kleider ironisch. «Wie hast du unsere Adresse rausgefunden?»
    «Gestern, in einem Lokal und wegen des Regens. Quesito ist auf die Toilette gegangen und hat den Fehler gemacht, die Tasche bei mir liegenzulassen. Auf dem Personalausweis habe ich ihren richtigen Namen gesehen sowie Adresse und Geburtsdatum. Den Namen der Mutter habe ich nicht beachtet.»
    «Du hast sie Quesito genannt?»
    «Sie hat mir gesagt, so nenne man sie in der Familie. Stimmt das nicht?»
    «Um Gottes willen …» Emilia reagierte beleidigt auf die Frage. Dann deutete sie ein Lächeln an und sagte: «Sie erfindet gern Namen; sie ist eine Schwindlerin und gerät andauernd in Schwierigkeiten, ohne zu wissen, wie und warum. Ich weiß nicht, von wem sie das hat.»
    «Was willst du damit andeuten, Emilia?»
    Während dieses hastigen Gesprächs waren wir von der winzigen Diele in ein kleines rechteckiges Wohnzimmer gegangen, in dem eine abgenutzte Sitzgruppe, ein Bücherregal und ein Fernseher standen. Durch einen Balkon kam heiße Luft herein, um nachher vom Ventilator
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher