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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman
Autoren: John Boyne
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Hayes«, sagte Mrs Drake und streckte ihr die behandschuhte Hand mit so herrschaftlicher Geste entgegen, dass sich die jüngere Frau fragte, ob sie einen Knicks machen und sie küssen sollte. Sie widerstand dem Drang jedoch und schüttelte sie stattdessen kräftig. Mrs Drake schürzte die Lippen. »Was für einen festen Griff Sie haben«, sagte sie kritisch. »Sehr männlich. Reisen Sie allein?«
    »Hier an Bord muss es außer uns noch mehr als tausend Leute geben«, versuchte Martha etwas Humor in die Unterhaltung zu bringen, was sich jedoch gleich gegen sie wandte, da Mrs Drake die Bemerkung für ungehobelt hielt.
    »Ich meine, haben Sie eine Anstandsdame? Ihre Mutter vielleicht? Eine Lieblingstante? Oder auch einen bezahlten Begleiter? Es soll Damen geben, die so etwas mögen. Ich natürlich nicht, aber man hört derlei Dinge.«
    »Ich bin allein«, sagte Miss Hayes nach einer Weile, und in ihrer Stimme lag eine solche Würde, dass Mr Robinson gezwungen war, sie näher zu betrachten, und sich fragte, ob ihre Worte nur ihren Status an Bord oder ihr Leben allgemein betrafen.
    »Wie traurig für Sie, Sie armes, elendes, gottverlassenes Ding«, sagte Mrs Drake. »Ich selbst reise niemals allein und würde auch Victoria nicht erlauben, ohne mich ins Ausland zu fahren. Sie ist noch zu jung, wissen Sie. Erst siebzehn. Wie alt sind Sie, Edmund?«, fragte sie.
    »Ebenfalls siebzehn«, antwortete Mr Robinson für ihn. »Und auch ich habe ihn lieber bei mir.«
    »Ah, aber er ist ein Junge«, sagte Mrs Drake, als änderte das alles. »Praktisch ein Mann. Männer sind nicht so sehr in Gefahr, selbst wenn sie so zarte Züge haben wie Ihr Sohn.« Sie sah ihn näher an und verengte die Augen. »Waren Sie mal in eine Auseinandersetzung verwickelt, Edmund?«
    »Nein«, antwortete er argwöhnisch.
    »Aber die Narbe auf Ihrer Lippe«, sagte sie und musterte den schmalen rosafarbenen Schnitt, der vom rechten Nasenloch bis hinunter zum Mund führte. »Das ist doch sicher das Ergebnis einer kleinen Auseinandersetzung. Jungen können so mutwillig sein.« Sie lächelte. »Kleine Lauser.« Edmund spürte, wie er rot wurde, und tastete unsicher nach der Stelle, die sie angesprochen hatte. Er war sich bewusst, dass die Blicke der anderen auf ihm lagen, und hasste Mrs Drake dafür. »Ich habe das Gefühl, junge Damen sind immer in Gefahr, wenn sie allein reisen«, fuhr Mrs Drake endlich fort, ohne etwas von seiner Verlegenheit zu bemerken. »Ich denke, da verstehen wir einander wohl, Mr Robinson.«
    »Ich kann gut auf mich aufpassen«, sagte Martha, die bereits eine ziemliche Abneigung gegen diese massige Frau empfand, diese hochnäsige Tonne, die sie so von oben herab behandelte. »Ich bin es gewohnt.«
    »Sind Sie das«, sagte Mrs Drake herablassend, voller Neugierde, wie die Verhältnisse der jüngeren Frau wohl aussahen, doch ganz und gar nicht gewillt, ihr mit noch mehr Aufmerksamkeit zu schmeicheln. »Wie schön für Sie. Nun, Mr Robinson, da wir praktisch Nachbarn sind, hoffe ich doch, dass wir einmal abends zusammen dinieren? Die Reise vergeht so viel schneller, denke ich, wenn man Freundschaften und Bekanntschaften schließt. Ich spiele am liebsten Fan Tan, bin aber ebenso gut in Whist und Baccara. Der Speisesaal der ersten Klasse nimmt Reservierungen an, und ich weiß aus bester Quelle, dass die Tische schon früh ausgebucht sind. Vielleicht sollte ich für morgen Abend einen Tisch für vier reservieren?« Sie würdigte Martha keines Blickes mehr, die sich angesichts der Brüskierung ein kurzes Lächeln erlaubte. Mr Robinson dagegen wirkte zunehmend nervös, und seine Hand wanderte zu seinem Schnauzbart, wie sie es in Augenblicken der Krise immer tat, nur war da kein Schnauzbart mehr. Er riss überrascht die Augen auf.
    »Wo ist Ihre Mutter?«, fragte Victoria Edmund mit inquisitorischem Ton. Sie hatte sich von Mrs Drake gelöst und ein Stück die Reling hinabgeschoben, sodass sie und Edmund etwas abseits von den anderen standen, außer Hörweite, wenn sie nicht zu laut sprachen. »Ist sie tot?«
    Edmund sah sie an, überrascht von der Direktheit ihrer Frage. »Ja«, sagte er endlich. »Sie ist vor ein paar Jahren gestorben.«
    »Und woran?«
    »Sie hat sich die Pest geholt«, sagte Edmund mit unbewegter Stimme. »Die hat sie dahingerafft.«
    »Die Pest?«, fragte Victoria erschreckt und wich ein Stück zurück, als wäre er womöglich ansteckend. »Ernsthaft?«
    »Nein, natürlich nicht. Das war nur ein Spaß. Himmel,
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