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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman
Autoren: John Boyne
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fand, um die Situation zu beschreiben. »Ich bin das alles nicht gewöhnt«, sagte er endlich.
    Mr Robinson nickte. Er lächelte. »Also gut. Wenn es dir so viel bedeutet, gehen wir zusammen. Ich brauche nur noch meinen Mantel.«
    Edmund grinste. Seine Überredungskünste waren unübertroffen, und selbst bei kleinen Dingen wie diesen gab ihm sein Sieg ein wohliges Machtgefühl.
    Der Wind blies kräftig über das Deck des Schiffes, und da sich viele Passagiere entschlossen hatten, unten zu bleiben, bekamen sie problemlos einen Platz an der Reling. Das Erste-Klasse-Deck war im Übrigen vom Zwischendeck getrennt, sodass sie ausreichend Raum hatten, um sich die Beine zu vertreten oder in den Liegestühlen auszuruhen. Von ihrer erhöhten Position aus sahen sie den gesamten Antwerpener Hafen vor sich liegen. Tausende Menschen schienen geschäftig darin herumzulaufen, Arbeiter, Reisende, Menschen, die Verwandte abholten oder verabschiedeten, und sicher auch einige, die sich verlaufen hatten.
    »So schön wie Paris ist es nicht, oder?«, sagte Edmund und knöpfte sich den Mantel zu.
    »Was?«
    »Antwerpen. Die Stadt hat mir nicht so gefallen wie Paris. Da hatten wir mehr Spaß.«
    »Weil Paris die Stadt der Liebe ist, wenigstens sagt man das so.« Mr Robinson lächelte. »Ich glaube nicht, dass es viele Städte auf der Welt gibt, die mit Paris konkurrieren können. Irgendwo habe ich gelesen, dass gute Amerikaner, wenn sie sterben, nach Paris kommen.«
    Edmund lachte. »Bist du einer von ihnen?«, fragte er. »Bist du ein guter Amerikaner?«
    »Eins von beidem schon«, sagte er, »da bin ich sicher.«
    Eine Windböe erfasste sie von hinten, und ohne dass er darüber nachgedacht hätte, ließen Mr Robinsons Reflexe seine Hand vorschnellen und einen Damenhut auffangen, bevor er über die Reling geblasen wurde und ins Wasser unter ihnen fiel. Er bestaunte seinen Fang, eine dunkelblaue Haube, und drehte sich zu einer Frau um, die ein paar Schritte hinter ihnen stand und die Hände an den Kopf gedrückt hielt, auf dem eben noch der Hut gesessen hatte.
    »Ist das Ihrer, Madam?«, fragte er überrascht.
    »Vielen Dank«, sagte die Frau und lachte sanft, setzte ihn wieder auf und band ihn mit einer doppelten Schleife unter dem Kinn fest. »Der Wind hat ihn erfasst, bevor ich ihn festhalten konnte. Ich glaubte ihn schon verloren. Wie geistesgegenwärtig von Ihnen, ihn zu fangen.«
    Er deutete eine höfliche Verbeugung an und berührte die Krempe seines eigenen Huts, um ihre Freundlichkeit zu erwidern. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte, und überlegte, ob es unhöflich wäre, wenn er sich wieder dem Hafen und ihr damit den Rücken zuwandte. Sie befreite ihn jedoch aus seiner Unsicherheit, indem sie selbst an die Reling trat, die Arme vor sich verschränkte und in die Ferne starrte, als sich das Schiff zu bewegen begann.
    »Ich hatte mir vorgestellt, es wären mehr Leute«, sagte sie, den Blick unverwandt geradeaus gerichtet.
    »Wirklich?«, sagte Mr Robinson. »Ich glaube, ich habe noch nie so viele Menschen gesehen. Es heißt, auf dem Schiff haben achtzehnhundert Seelen Platz.«
    »Ich meine Leute, die uns verabschieden. Ich hatte mit Unmengen Männern und Frauen gerechnet, die mit Taschentüchern winken und Tränen über den Verlust ihrer lieben Verwandten vergießen.«
    »Ich glaube, das gibt es nur in Büchern«, sagte Mr Robinson. »In Wirklichkeit sind sich die Menschen nicht so wichtig wie in Romanen.«
    »Dem Himmel sei Dank«, sagte sie. »Ich persönlich mag keine Menschenansammlungen. Eigentlich wollte ich in meiner Kabine bleiben, bis wir auf See sind, doch dann dachte ich, vielleicht sehe ich Europa nie wieder und bedauere es irgendwann einmal, meinen letzten Blick darauf verpasst zu haben.«
    »Genau das habe ich auch gesagt«, meldete sich jetzt Edmund zu Wort. Er beugte sich vor und sah die Dame leicht argwöhnisch an. Sollte es tatsächlich zu einem Gespräch kommen, wollte er daran teilhaben. »Ich musste ihn überreden, mit heraufzukommen, mit genau dem Argument.«
    Die Frau lächelte und sah ihre beiden Gesellschafter an. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich hätte mich längst vorstellen sollen. Martha Hayes.« Sie reichte beiden die Hand. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.«
    »John Robinson«, kam die Antwort. »Und mein Sohn Edmund.« Als er seinen Namen nannte, warf er dem Jungen einen Seitenblick zu, der besagte, dass genau so etwas der Grund war, warum er lieber unter Deck geblieben wäre.
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