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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman
Autoren: John Boyne
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wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Die Medizin hat sich ein bisschen weiterentwickelt. Nein, es war Tuberkulose.«
    »Ah«, sagte Victoria erleichtert. »Es tut mir leid, das zu hören. Meine Tante Georgina hatte auch Tuberkulose, und sie musste die letzten zehn Jahre ihres Lebens in der Schweiz verbringen, wegen der Luft. Dann ist sie gestorben, weil ein Vogel auf sie gefallen ist.«
    »Weil
was
auf sie gefallen ist?«
    »Eines Tages ist ihr ein Vogel auf den Kopf gefallen. Als sie einen Spaziergang machte. Er muss im Flug gestorben sein und ist runtergefallen. Sie war gleich tot, es war ein ziemlich großer Vogel. So zu sterben ist sicher nicht angenehm. Besonders, weil sie dort hingezogen war, um am Leben zu bleiben. Ich meine, da hätte sie auch nach Hause kommen und ihre letzten Tage in England verbringen können, ohne Angst haben zu müssen, dass irgendwelche Sachen vom Himmel fallen und sie umbringen. Aber das sind die Schweizer, denke ich. Die sind ein komisches Volk, finden Sie nicht auch?«
    Edmund nickte und hob die Brauen ein wenig. Er fragte sich, ob Vögel und Tiere tatsächlich eine nationale Identität annehmen konnten. »Wo ist Ihr Vater?«, fragte er nun seinerseits. »Ist er auch tot?«
    »Er ist in … London«, antwortete sie und schüttelte den Kopf, als wäre es nicht so einfach, sich an seinen genauen Aufenthaltsort zu erinnern. »Er ist Bankier und reist manchmal herum, aber sein Büro ist in London. Wir machen Urlaub in Kanada und besuchen meinen Onkel und meine Tante. Die beiden sind vor zwanzig Jahren ausgewandert, und seitdem hat meine Mutter sie nicht mehr gesehen. Sie sind sehr wohlhabend.«
    »Wie schön für sie«, sagte Edmund sarkastisch.
    »Mutter
sagt,
dass sie mir nicht erlauben würde, allein zu verreisen«, fuhr sie fort und achtete nicht weiter auf seinen Ton. »Aber nächstes Jahr werde ich achtzehn, dann bekomme ich mein Geld, und wenn ich es habe, mache ich mich aus dem Staub, reise ein bisschen herum und lasse es mir gut gehen.«
    Edmund lächelte und sah zu Mrs Drake hinüber, die bei Mr Robinson und Miss Hayes stand, aber ausschließlich mit seinem Vater redete, der aussah, als stünde er kurz davor, über Bord zu springen. »Das würde ich sie nicht hören lassen«, sagte er.
    »Oh, sie hört mich nicht. Nicht durch den Lärm ihrer eigenen Stimme. Wenn sie es darauf anlegte, könnte sie die Schiffsmaschinen übertönen.«
    »Wohin wollen Sie denn?«, fragte er. »Mit Ihrem Geld, meine ich.«
    Victoria sah aufs Meer hinaus. Ihre Miene entspannte sich, und ein Lächeln überzog ihr Gesicht. Ihr langes dunkles Haar wehte anmutig nach hinten, und Edmund kam nicht umhin, ihre perfekte Haut und die blasse Schönheit ihrer Züge zu bewundern. »Wohin der Wind mich trägt«, sagte sie dramatisch. »Und wo sich die passenden jungen Männer in mich verlieben werden.«
    Edmund schnappte nach Luft und ließ ein leises Lachen hören.
    »Schockiere ich Sie?«, fragte Victoria kokett, und ihre Augen wurden schmal.
    »Nein«, sagte er mit fester Stimme, um ihr den Kitzel nicht zu gönnen.
    Die Enttäuschung war ihr anzusehen. »Oh«, erwiderte sie ernüchtert. »Warum nicht?«
    »Ich bin nicht so leicht zu schockieren.«
    »Vielleicht fehlt Ihnen meine Abenteuerlust«, sagte sie.
    »Vielleicht fehlt Ihnen meine Lebenserfahrung.«
    »Sie reisen schließlich noch mit Ihrem Vater.«
    »Und Sie mit Ihrer Mutter.«
    »Aber Sie sind ein Junge«, sagte sie. »Wie meine Mutter sagte, praktisch schon ein Mann. Wollen Sie nicht ohne ihn verreisen? Selbst eine kleine Verführung versuchen?«
    Edmund erlaubte sich ein Lächeln, sah Victoria aber nicht an. Er wusste bereits, dass sie die Art Mädchen war, die er nicht mochte, aber während er so neben ihr stand, spürte er, dass er die Macht hatte, sie zu reizen, was ihn um zehn Zentimeter wachsen ließ.
    »Victoria, Liebes, häng nicht so über der Reling«, rief Mrs Drake, und sie sahen zu ihr hin. Edmund schlenderte zurück zu den dreien, und Victoria war gezwungen, ihm zu folgen. Sie ärgerte sich über seine offensichtliche Gleichgültigkeit ihr gegenüber, das war sie nicht gewohnt. In London, wo die Drakes wohnten, und in Paris, wo sie den Großteil ihrer Zeit verbrachten, galt sie als gute Partie und genoss es, unschuldige Jungen an der Nase herumzuführen, sie in sich verliebt zu machen und bei der nächsten Gelegenheit wieder abzuservieren. Von diesen Dingen hatte ihre Mutter natürlich kaum eine Ahnung. Im letzten Sommer hatte
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