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Der Fluch

Der Fluch

Titel: Der Fluch
Autoren: Krystyna Kuhn
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war.«
    Eine Weile herrscht Schweigen. Vielleicht ist er jetzt endlich zufrieden.
    Nein. Es geht weiter. Er tut nur so, als ob er lange und gründlich nachdenkt.
    »Sie fürchteten also, Muriel könnte sterben … oder?«
    »Ja.«
    »Und da haben Sie natürlich Erste Hilfe geleistet.« Er hebt beide Hände, sieht mich abwartend an.
    »Nein«, flüstere ich.
    »Nein?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Warum nicht?«
    »Muriel hatte Schmerzen. Ich wollte sie nicht bewegen. Ich hatte Angst, etwas Falsches zu tun.«
    »Sie hatten Angst, etwas Falsches zu tun, und haben deswegen gar nichts getan.«
    Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung und wieder gruselt es mich vor mir selbst. Es ist nicht das Einzige, was ich mir nie werde verzeihen können.
    »Deswegen haben Sie … ich wiederhole es noch einmal«, er stoppt kurz, um seine Verwunderung zu zeigen, »gar nichts getan.«
    Mir fällt keine Antwort ein, stattdessen schwirren die Fragen in meinem Kopf herum. Seine und die, die ich mir selbst stelle.
    Es ist wie ein Déjà-vu.
    Es ist noch nicht lange her, dass ich so eine Befragung hinter mich bringen musste. Bei der Staatsanwaltschaft in Boston. Sie sollte zur Festnahme von J. F. führen. Wie damals habe ich das Gefühl, sie wollen mich in die Enge treiben. Sie wollen, dass ich mich in Widersprüche verwickle, wollen irgendetwas Bestimmtes hören, doch ich weiß nicht, was. Und wieder denke ich an den Befehl meiner Mutter, niemals etwas ohne sie, ohne meinen Anwalt zu sagen.
    Und ich verstehe nicht, wie das alles zusammenhängt – aber das tut es, ich weiß es jetzt. Mein Ohr an Muriels Mund. Der Name, den sie gehaucht hat, kurz bevor sie gestorben ist. Ich erinnere mich genau an den Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie das Treffen vorschlug. Schock, Vorsicht, Angst.
    All das müsste ich dem Superintendenten erklären, wenn er die Wahrheit wissen will. Aber wie soll das gehen, wenn ich es selbst nicht verstehe?
    »Es tut mir leid.« Das ist alles, was ich hervorbringe.
    »Was tut ihnen leid? Dass Sie ihr nicht geholfen haben?«
    Mrs Jones nickt mir aufmunternd zu und für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, wenn ich es zugebe, wenn ich alles zugebe, ist es vielleicht vorbei und ich kann in mein Zimmer gehen, um endlich zu schlafen.
    »Ja.«
    Aber ich hätte wissen müssen, dass das nicht funktioniert. Ein leises Lächeln liegt auf seinen Lippen, als er feststellt: »Vielleicht wollten Sie das ja gar nicht.«
    Stille.
    Ich höre nur meinen Atem und das Ticken einer Uhr, die nicht in meinem Sichtfeld ist.
    »Nein«, widerspreche ich.
    »Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, es war Ihnen egal, ob dieses Mädchen stirbt. Sonst hätten Sie das getan, was man in so einem Fall tut. Sie hätten Hilfe geholt. Sie hätten den Notruf gewählt.«
    »Nein.« Ich merke, wie eine einzelne Träne die Wange herunterläuft, aber ich werde jetzt nicht weinen. »Ich konnte sie dort unten nicht alleine lassen. Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Ich habe ihre Hand gehalten, ich bin bei ihr geblieben … sie hat mich darum gebeten.«
    »Ich kann das nicht länger verantworten.« Mrs Jones springt auf. »Sie sehen, in welchem Zustand sie ist. Sie steht noch immer unter Schock. Brechen Sie ab. Ich muss darauf bestehen.«
    Harpers Miene ist unbewegt, doch seine Stimme ändert sich plötzlich. »Wollen Sie das wirklich, Miss Gardner?«, fragt er sanft. »Wollen Sie aufhören, bevor ich wirklich begriffen habe, warum dieses Mädchen gestorben ist? Oder wollen Sie mir helfen, die Wahrheit zu erkennen?«
    Ich schaue ihn an und sehe etwas in seinen Augen, das mir Mut gibt.
    Langsam nicke ich.
    Er lächelt, ganz kurz nur, dann ziehen sich seine Augenbrauen wieder zusammen.
    »Also noch einmal von vorne: Wie haben Sie Muriel kennengelernt?«
    Teil II

Eine Woche zuvor
Sonntag, 15. Mai bis Samstag, 21. Mai 2011

4. Rose
    Es ist der Sonntag, bevor das neue Studienjahr beginnt. Seit dem Mittag kommt ein Bus nach dem anderen hier oben am Parkplatz an und die neuen Studenten stürmen das Collegegebäude. Überall erwartungsvolle Gesichter, manche voller Hoffnung, andere eher besorgt. Die Eingangshalle dröhnt von den lauten Stimmen. Ständig stolpert man über Koffer, Reisetaschen, Rucksäcke, Plastiktüten und Sportgeräte. Die Unterhaltungen drehen sich immer um dieselben Dinge: wann sie ihre Zimmer zu sehen bekommen, welche Hauptfächer sie gewählt haben und: Wow, ist die Landschaft toll.
    Das Tal ist heute wirklich in Bestform. Die neuen
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