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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger
Autoren: Willy Russell
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will einfach nur nicht, dass ihr bei diesem Anblick schlecht wird. Und wahrscheinlich will ich auch nicht riskieren, dass sie mich dann vielleicht nicht mehr mag. Sie ist zwar nicht meine Freundin und ich bedränge sie auch nicht. Aber sie geht so locker und entspannt mit mir um, und wenn wir abends mit den andern im Gemeinschaftsraum sitzen, auf einem der großen Sofas, und zuhören, wie Ralph oder sonst jemand eine Geschichte vorliest, dann nimmt Jo manchmal meine Hand oder lehnt ihren Kopf an meine Schulter, als würde sie sich an mich schmiegen. Und das ist wunderschön, Mam! Denn wenn sie auch nicht meine Freundin ist, spür ich doch, wie sehr sie mich mag. Und es ist toll, von einem Mädchen wie Jo so sehr gemocht zu werden.
    Eigentlich weiß ich ja, dass es keinen Unterschied machen würde, wenn sie meine schorfige Haut sieht. Es wär mir einfach nur ein bisschen peinlich, das ist alles. Ich weiß, dass es albern ist, denn Jo hat mich ja im Delirium erlebt, und nicht mal das hat sie abgestoßen!
    Das kam vom Hitzschlag, Mam, dass ich so benommen war und wie ein Betrunkener herumgetorkelt bin. Und dann bin ich ohnmächtig geworden und hatte offenbar Fieber und war ganz verwirrt und hab phantasiert. Deshalb dachte ich erst, ich sei in einer Nervenheilanstalt gelandet! Als ich hier ankam, dachte ich, ich sei im Krankenhaus! An dem Tag, als ich aufgewacht bin, als ich endlich wieder zu mir kam, hab ich sie durchs offene Fenster gesehen: lauter komische Leute, die draußen auf dem Rasen rumliefen. Manche bewegten die Lippen, ohne dass ein Wort rauskam, andere führten Selbstgespräche, murmelten oder plapperten vor sich hin, um plötzlich mittendrin aufzuschreien und laut zu fluchen, genau wie damals die Tourettepatienten in Swintonfield; wieder andere redeten vornehm und gestelzt daher, wiederholten ständig die gleichen Wörter wie manche der alten Leute in Swintonfield, die geistig verwirrt waren und sich für den toten King George oder für Bertrand Russell hielten. Genauso war es hier auch, Mam, wie in Swintonfield an sonnigen Nachmittagen, wenn die armen Patienten über den Rasen schlurften, im Klub der gebrochenen Herzen.
    Und das Mädchen, Mam, dieses Mädchen, von dem ich immer gedacht hatte, ich würd es mir nur einbilden so wie die Mutanten und den Mann hinterm Vorhang, der mit dem verkehrt rum sitzenden Kopf, weißt du noch, Mam? Na ja, das war auch ein Grund, warum ich dachte, ich sei wieder im Krankenhaus gelandet, weil sie bei ihnen war, das Mädchen, sie, von der ich glaubte, ich hätte sie mir nur eingebildet, der ich damals beim Altglascontainer begegnet war, deren Augen wie leuchtend braune Kastanien sind.
    Und als ich aus dem Fenster starrte und sie dort alle auf dem Rasen rumlaufen sah – manche wie in Trance und wie besessen, manche, die immer wieder das Gleiche vor sich hin plapperten, manche, die ständig die gleichen Bewegungen wiederholten wie Zwangsneurotiker -, da sah ich sogar den Amerikaner, den ich mir zusammenphantasiert hatte, der mit dem großen Wagen, dem silberfarbenen Mercedes und dem Stapel Kassetten von Morrissey und The Smiths. Ich beobachtete ihn durchs Fenster des weißen Zimmers, als er auf dem Rasen erschien und zwischen den Patienten rumging. Und da dachte ich, er sei der Chefarzt, wie Dr. Corkerdale, denn plötzlich klatschte er in die Hände, und alle Patienten blieben mitten in der Bewegung stehen, hörten auf zu gestikulieren, zu reden, zu schreien, hörten auf, Gegenstände aufzuheben und wieder ins Gras zu legen, hörten auf im Kreis rumzulaufen. Und ich dachte, dieser Amerikaner muss ja ein richtig toller Arzt sein, wenn die Patienten plötzlich alle keine Patienten mehr sind! Er stand zwischen ihnen und sprach erregt auf sie ein. Und sie schauten ihn an, lauschten und folgten ihm über den Rasen. Und plötzlich brachen alle in Gelächter aus, alle auf einmal und zwar wie ganz normale Menschen.
    In dem Moment sah er mich am Fenster stehen. Ich wollte mich noch hinterm Vorhang verstecken, aber da winkte er mir mit strahlendem Lächeln zu und rief: »Raymond! Hey! Wie geht’s dir?«
    Und jetzt drehten sich alle Patienten um und starrten mich an, manche zeigten auf mich, manche lächelten, andere winkten mir zu, und dann redeten alle miteinander. Doch er kam über den Rasen auf mich zu, fragte mich, wie ich mich fühle, und sagte, es tue ihm Leid, er habe ganz vergessen, dass mein Zimmer ja auf den Rasen geht – sonst hätte er den Workshop in der Scheune und
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