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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger
Autoren: Willy Russell
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sagte: »Homosexuell sein ist doch nichts Schlimmes.«
    Sie sagte: »Das hab ich auch nie behauptet, Raymond; ich will nur wissen, was du bist.«
    Ich sagte: »Du weißt doch, was ich bin.«
    Ich sah sie nur an und zuckte die Achseln. Mit den Tränen kämpfend sagte ich: »Ich bin einfach nur ein Junge, das ist alles. Ich bin just a boy with a thorn in his side , wie es bei Morrissey heißt!«
    Meine Mam stand da und starrte mich an wie ein unlösbares Rätsel. Und ich starrte zurück und wünschte mir, sie würde mich in den Arm nehmen und fest an sich drücken und sie würde sagen, dass es falsch von ihr war, zu Onkel Jason zu gehen, diesem gemeinen Dieb. Ich wünschte mir, sie würde mich zum Lachen bringen und mir irgendwas Lustiges über Tante Fays venezianische Badesuite von Texas Homecare erzählen. Ich wollte, dass meine Mam auf meiner Seite war. Ich wollte bei Toast und Milchkaffee neben ihr sitzen, meinetwegen sogar ein »junger Mensch« sein und ihr erklären, dass ich nicht homosexuell war, nur ein Junge, der offenbar große Probleme hatte, heterosexuell zu werden. Ich wünschte mir, meine Mam würde mich einfach in den Arm nehmen und mich verstehen. Aber sie sah mich nur an; sie sah mich an wie damals, vor vielen Jahren, als diese Sache am Kanal passiert war. Und als das kleine Mädchen vermisst wurde.
    Ich fragte: »Warum starrst du mich so an?«
    Aber meine Mam schüttelte nur langsam und traurig den Kopf wie eine leidgeprüfte Frau. »Mein Gott«, seufzte sie, als sie ihren Mantel auszog. »Mein Gott, mein Gott!«
    Und weil ich es nicht ertragen konnte, dass meine Mam so verzweifelt war, und weil ich sie um jeden Preis glücklich sehen wollte, erklärte ich mich bereit, nach Grimsby zu gehen!
    Diese Idee stammte nämlich von meinem Drecksonkel Jason. Er kam am nächsten Tag vorbei und erzählte meiner Mam von einem Kumpel, der am Stadtrand von Grimsby arbeitete und eine Multiplexanlage mit zweiunddreißig Kinos und allen möglichen Dienstleistungen baute, einschließlich größerer Ladengeschäfte, umweltfreundlich gestalteter Parkplätze, schicker Fastfood-Restaurants und einem Lokal mit Seefahrerambiente, untergebracht in der von einem Architekten entworfenen Nachbildung eines Fischtrawlers. Und um meinem Onkel Jason einen Gefallen zu tun, war dieser Kumpel offenbar bereit, mir zu einem Start ins Leben zu verhelfen. Anfangs sollte ich nur ein bisschen mithelfen, Tee kochen und so. Doch wenn ich mich bewährte, hatte ich Aufstiegschancen, durfte Ziegel schleppen und kriegte die Chance, richtig Geld zu verdienen. Meine Mam sagte, damit seien alle Probleme gelöst, denn ein Job sei genau das, was mir schon lange fehle, weil ich dann endlich mal aus dem Haus und mit andern Menschen zusammenkäme. Ich starrte sie ungläubig an. Ich wollte keinen Job. Ich wollte nicht mit andern Menschen zusammenkommen. Ich mag Menschen nicht. Meiner Ansicht nach handelt es sich beim Menschen um eine stark überschätzte Spezies und das gilt insbesondere für Menschen auf Baustellen. Ich hasse Baustellen; es ist eine wohl bekannte Tatsache, dass Baustellen Schmelztiegel der Gewalt sind – dort wimmelt es nur so von oberflächlichen Vollidioten, die schwitzen und fluchen und sich »Mami, ich hab dich lieb« auf ihre knorrigen Knöchel tätowieren lassen. Ich wollte nicht auf diese verdammte Baustelle. Ich wollte keinen Job, verdammt noch mal. Mich machte es vollkommen glücklich, als Versager in Failsworth zu leben. Aber meine Mam strahlte übers ganze Gesicht, als teile sie mir eben mit, dass man mir den Literaturnobelpreis verliehen habe.
    »Das ist die Chance für dich, Raymond!«, sagte sie. »Das ist die Chance, die du schon lange verdient hast. Komm«, sagte sie, »zieh dich an, ich lad dich zur Feier des Tages zu einem richtig schönen Sonntagsessen ein!«
    Und dann nahm mich meine Mam in den Arm. Und es war, als sei aller Kummer von ihr abgefallen. Durch die Freude wirkte sie richtig mädchenhaft. Und so kam es, dass ich – als sie mir einen Kuss auf die Wange drückte und fragte: »Ist das nicht toll, Raymond? Ist das nicht toll?«, antwortete: »Ja, Mam, das ist toll.«
    Und die ganze Woche über, je näher der Tag meiner Abreise rückte, duftete es immer köstlicher nach den leckersten Gourmetgerichten, die sie extra für mich kochte. Normalerweise beklagte sich meine Mam ja ständig, dass ich Vegetarier bin, und meinte, es sei eine Strafe, für mich zu kochen. Aber in der Woche vor meiner Abreise schüttete
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