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Der Fledermausmann

Der Fledermausmann

Titel: Der Fledermausmann
Autoren: Jo Nesbø
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Kaianlagen, zu den Fähren in die Vorstädte auf der nördlichen Seite der Port Jackson-Bucht.
    »Was machen wir jetzt?« fragte Harry.
    »Wir gehen in den Zirkus! Das ist gleich hier oben in der Straße, und ich habe einem Freund versprochen, daß ich mal vorbeischaue. Und heute ist es soweit, oder?«
     
    Im Powerhouse hatte eine kleine Zirkustruppe bereits ihre Gratisvorstellung am Nachmittag für ein nicht gerade zahlreiches, aber enthusiastisches junges Publikum begonnen. Das Gebäude war früher ein Kraftwerk gewesen, und später, als in Sydney noch die Straßenbahnen fuhren, eine Halle für Straßenbahnen. Jetzt diente es als eine Art zeitgenössisches technisches Museum. Ein paar durchtrainierte Frauen hatten gerade eine nicht sonderlich aufsehenerregende Trapeznummer beendet, trotzdem war der Beifall wohlwollend laut.
    Ein Clown betrat die Manege, in die gleichzeitig eine wuchtige, riesige Guillotine geschoben wurde. Er trug eine bunte Uniform und eine gestreifte Mütze, was alles auf die Französische Revolution hindeuten sollte. Er stolperte und machte zur großen Freude der Kinder allerhand Unsinn. Dann erschien ein zweiter Clown mit langer weißer Perücke, und Harry erkannte, daß dieser Ludwig XVI. verkörpern sollte.
    »Mit einer Stimme Mehrheit zum Tode verurteilt«, verkündete der Clown mit der gestreiften Mütze.
    Der Verurteilte wurde zum Schafott geführt, wo sein Kopf – noch immer zur großen Begeisterung der Kinder – unter viel Ach und Weh schließlich auf der Guillotine, unter dem Fallbeil, plaziert wurde. Ein kurzer Trommelwirbel ertönte, das Beil ratterte zur Überraschung aller – Harry eingeschlossen – herab, trennte das Haupt des Monarchen mit einem Geräusch ab, das an winterliche Axtschläge im Wald erinnerte, und der Kopf löste sich mitsamt Perücke vom Körper und kugeltein einen Korb. Das Licht ging aus, und als es wieder eingeschaltet wurde, stand der kopflose König, seinen eigenen Kopf unter dem Arm, im Rampenlicht mitten in der Manege. Der Jubel der Kinder wollte kein Ende nehmen. Dann ging das Licht erneut aus, und als es zum zweiten Mal angeschaltet wurde, stand die gesamte Truppe da und verbeugte sich. Die Vorstellung war beendet.
     
    Während die Besucher dem Ausgang entgegenströmten, gingen Andrew und Harry hinter die Bühne. In der provisorischen Garderobe zogen die Artisten bereits ihre Kostüme aus und schminkten sich ab.
    »Otto, ich möchte dir einen Freund aus Norwegen vorstellen !« rief Andrew.
    Ein Gesicht drehte sich um. Ludwig XVI. sah ohne Perücke und mit verschmierter Schminke deutlich weniger majestätisch aus: »Tuka The Indian!«
    »Harry, das ist Otto Rechtnagel.«
    Otto hielt ihm standesgemäß die Hand mit leicht abgewinkeltem Handgelenk entgegen und schien etwas beleidigt zu sein, als Harry sich, leicht verwirrt, damit begnügte, diese schwach zu drücken.
    »No kiss, handsome?«
    »Otto fühlt sich als Frau. Eine Frau adeliger Abstammung«, erklärte Andrew.
    »Alles nur Unsinn, Tuka. Otto weiß nur zu gut, daß er ein Mann ist. Sie sehen verwirrt aus, junger Mann? Vielleicht wollen Sie sich selbst davon überzeugen?« Ottos Lachen war wie ein hoher Triller.
    Harry spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Ein paar falsche Augenwimpern flatterten Andrew vorwurfsvoll entgegen: »Redet er auch, dein Freund?«
    »Entschuldigung, ich heiße . . . Harry . . . äh . . . Holy. War 'ne tolle Vorstellung da draußen. Schöne Kostüme. Sehr . . . lebendig. Ungewöhnlich.«
    »Die Ludwig XVI.-Nummer? Ungewöhnlich? Ganz im Gegenteil. Das ist ein alter Klassiker. Er wurde zum ersten Mal von der Clownsfamilie Jandaschewsky in Szene gesetzt, und das war gerade einmal zwei Wochen nach der wirklichen Hinrichtung im Januar 1793. Die Menschen liebten es. Öffentliche Hinrichtungen waren schon immer sehr beliebt. Wissen Sie, wie viele Wiederholungen des Kennedy-Attentats jedes Jahr von amerikanischen Fernsehsendern ausgestrahlt werden?«
    Harry schüttelte den Kopf.
    Otto schaute nachdenklich an die Decke.
    »Sehr viele.«
    »Otto fühlt sich als Nachkomme des großen Jandy Jandaschewsky«, erklärte Andrew.
    »Is that so?« Berühmte Clowns waren nicht gerade Harrys Fachgebiet.
    »Ich glaube, dein Freund kennt sich da nicht sonderlich aus, Tuka. Die Jandaschewsky-Familie war eine herumreisende Truppe von musizierenden Clowns, die um die Jahrhundertwende nach Australien kamen und sich hier niederließen. Sie gaben Zirkusvorstellungen bis 1971, als Jandy starb.
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