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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel
Autoren: Barbara Tuchman
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in welchem Maß die Bevölkerung in ein bestimmtes Ereignis verwickelt war. Die ständigen Übertreibungen der mittelalterlichen Zahlenangaben – für Armeen z. B. – haben, wenn sie für bare Münze genommen wurden, in der Vergangenheit zu dem Mißverständnis geführt, den mittelalterlichen Krieg analog zum modernen Krieg zu sehen, der ihm in Mitteln, Zweck oder Methode sehr fern ist. Es muß vielmehr vorausgesetzt werden, daß mittelalterliche Zahlenangaben über Heerstärken, Gefallenenziffern, Seuchentote, revolutionäre Horden, Prozessionen und andere große Gruppen regelmäßig um mehrere hundert Prozent zu hoch liegen. Dies rührt daher, daß die mittelalterlichen Geschichtsschreiber die Zahlen nicht als Fakten, sondern als literarische Stilmittel auffaßten, die den Leser verblüffen oder erschrecken sollten. Der Gebrauch römischer Ziffern führte ebenso zu einem Mangel an Präzision wie die mittelalterliche Vorliebe für runde Zahlen. Die Angaben wurden späterhin unkritisch von einer Historikergeneration an die nächste weitergereicht. Erst seit dem letzten Jahrhundert haben Wissenschaftler begonnen, die alten Dokumente noch einmal zu überprüfen. So haben sie zum Beispiel die wahre Stärke eines Expeditionskorps erst anhand der Aufzeichnungen des Zahlmeisters feststellen können. Aber Meinungsverschiedenheiten gibt es immer noch. So setzt J. C. Russell die französische Bevölkerung vor der Pest mit 21 Millionen an, Ferdinand Lot mit 15 oder 16 Millionen und Edouard Perroy mit bescheidenen 10 bis 11 Millionen. Von der Größenordnung der Bevölkerungszahl hängt aber die Erforschung alles anderen ab: Steuern, Lebenserwartung, Handel und Landwirtschaft, Hungersnot oder Wohlstand, und da weichen die Zahlenangaben heutiger Autoritäten um bis zu hundert Prozent voneinander ab. Zahlenangaben von Chronisten, die offensichtlich verzerrt sind, erscheinen in meinem Text deshalb in Anführungszeichen.

    Diskrepanzen bei scheinbar gesicherten Fakten stammen häufig aus Fehlern mündlicher Überlieferung oder sind der späteren Mißdeutung handschriftlicher Manuskripte zuzuschreiben. So zum Beispiel, als die Dame de Coucy von einem sonst sehr gewissenhaften Historiker des 19. Jahrhunderts fälschlicherweise für de Coucys zweite Frau gehalten wurde, was eine Zeitlang zu meiner heillosen Verwirrung beitrug. Der Graf von Auxerre wurde verschiedentlich von englischen Geschichtsschreibern als Aunser, Aussure, Soussiere, Usur, Waucerre und von den Grandes Chroniques Frankreichs als Sancerre, ein völlig anderer Zeitgenosse, vorgestellt. Da nimmt es nicht länger wunder, daß ich den Namen Canolles für eine Variante von Arnaut de Cercole, den berüchtigten Räuberhauptmann, hielt, aber nur um herauszufinden, daß es eine Variante von Knowles oder Knollys war, einem englischen, allerdings ebenso berüchtigten Hauptmann. Obwohl dies Kleinigkeiten sind, können solche Schwierigkeiten einen zur Verzweiflung bringen. [Ref 3]
    Isabeau von Bayern, Königin von Frankreich, wird von einem Historiker als hochgewachsen und blond beschrieben und von einem anderen als »kleine, lebhafte, dunkelhaarige Frau«. Der türkische Sultan Bajasid, den seine Zeitgenossen kühn nannten, unternehmungslustig und kriegshungrig und der wegen seiner blitzartigen Überfälle »Donnerschlag« genannt wurde, wird von einem modernen ungarischen Autoren als »verweichlicht, sinnlich, zaudernd und unentschlossen« beschrieben.
    Man kann also getrost davon ausgehen, daß jede Feststellung über das Mittelalter mit einer gegenteiligen oder zumindest andersartigen Behauptung einhergeht. Die Frauen waren in der Überzahl, weil die Männer im Krieg getötet wurden; die Männer waren in der Überzahl, weil die Frauen im Kindbett starben. Die einfachen Leute waren mit der Bibel vertraut, nein, sie waren es nicht. Die Adligen waren von der Besteuerung ausgenommen; sie zahlten Steuern wie jeder andere auch. Die französischen Bauern waren verdreckt und stanken und lebten von Brot und Zwiebeln; die französischen Bauern aßen Schweinefleisch, Wild und Geflügel und nahmen im dörflichen Badehaus gern regelmäßig ihr Bad. Diese Liste könnte ins Unendliche fortgesetzt werden.
    Widersprüche aber sind ein Teil des Lebens und können nicht
nur auf unterschiedliche Erkenntnisse zurückgeführt werden. Deshalb möchte ich den Leser bitten, Widersprüche zu erwarten und keine Einförmigkeit. Kein gesellschaftlicher Teilbereich, keine Gewohnheit, keine Bewegung und
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