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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel
Autoren: Barbara Tuchman
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Befestigungsanlagen von der Gewalttätigkeit, die die mittelalterliche Geschichte prägte. Der architektonische Vorläufer der Burg, die römische Villa, war unbefestigt gewesen, vertraute dem römischen Recht und den Legionen, die ihr Schutzwall waren. Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs entstand die mittelalterliche Gesellschaft als ein Komplex einander widerstreitender Teile, der keiner effektiven weltlichen Zentralmacht unterworfen war. Als organisatorisches Prinzip bot sich nur die Kirche an, und dies war der Grund ihres Erfolgs, denn die Gesellschaft kann die Anarchie nicht ertragen.
    Aus dieser Turbulenz heraus begann sich eine zentrale weltliche Macht in Gestalt der Monarchie zu bilden, aber sie geriet, sobald sie wirksam wurde, auf der einen Seite mit der Kirche in Konflikt und auf der anderen Seite mit den Freiherren. Gleichzeitig entwikkelte das Bürgertum der Städte seine eigene Ordnung und verkaufte seine Unterstützung an Barone, Bischöfe oder Könige als Gegenleistung für die Gewährung von Stadtrechten. Indem sie die Freiheit des Handels garantierten, kennzeichnen diese Bullen städtischer Rechte den Aufstieg des urbanen dritten Standes. Das politische Gleichgewicht zwischen den rivalisierenden Gruppen war instabil, weil der König keine bewaffneten Kräfte zu seiner ständigen Verfügung hatte. Er konnte lediglich auf die feudale Verpflichtung seiner Vasallen zurückgreifen, ihm begrenzte militärische Dienste zu leisten, die später durch bezahlte Söldner verstärkt wurden. Die Herrschaft war noch persönlich, leitete sich aus dem Lehen und dem Gefolgschaftsschwur her. Nicht die Beziehung zwischen Bürger und Staat, sondern die zwischen Lehnsmann und Herr war die geltende politische Verbindlichkeit. Der Staat lag noch in den Geburtswehen.
    Durch seine günstige Lage im Mittelpunkt der Picardie war der Besitz Coucy, wie die Krone selbst anerkannte, »einer der Schlüssel zum Königreich« [Ref 7] . Von Flandern im Norden bis zum Ärmelkanal
und den Grenzen der Normandie stellte die Picardie den Hauptzugang zum nördlichen Frankreich dar. Ihre Flüsse führten sowohl nach Süden in die Seine als auch nach Norden in den Ärmelkanal. Ihr fruchtbarer Boden machte sie zum wichtigsten Ackerbaugebiet Frankreichs mit Weiden und Weizenfeldern, mit Waldungen und schön gelegenen, wohlhabenden Dörfern. Die Rodung, der erste Schritt zur Zivilisation, hatte mit den Römern begonnen. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts bot die Picardie einer viertel Million Haushalten oder mehr als zwei Millionen Menschen Lebensraum, was sie neben Toulouse zur einzigen Provinz Frankreichs machte, die im Mittelalter bevölkerungsreicher war als heute. Die Bevölkerung war selbstbewußt und freiheitsliebend, ihre Städte waren die ersten, die Gemeinderechte erwarben. [Ref 8]
    In der Grauzone zwischen Legende und überlieferter Geschichte war das Gut Coucy ursprünglich wohl ein Grundbesitz der Kirche, mit dem wahrscheinlich St. Remigius, der erste Bischof von Reims, von Chlodwig, dem ersten christlichen Frankenkönig, belehnt worden war. Das soll um das Jahr 500 geschehen sein. Nach seinem Übertritt zum Christentum hatte nämlich Chlodwig das Gebiet von Coucy seinem Täufer, dem Bischof der neuen Diözese von Reims, geschenkt. Er vollzog im kleinen, was Kaiser Konstantin mit seiner Schenkung getan hatte. Mit der Konstantinischen Schenkung war die Kirche sowohl staatlich etabliert als auch tödlich belastet. Wie William Langland schrieb:
    Als die Großzügigkeit Konstantins der hl. Kirche Unterhalt gab,
Durch Ländereien und Lehen, mit Herren und Dienern,
Da hörten die Römer hoch im Himmel einen Engel weinen,
»Dieser Tag der kirchlichen Schenkung hat Gift getrunken,
und alle, die Petrus’ Macht gewinnen, sind vergiftet auf immer.«
    Dieser Konflikt zwischen dem Streben nach göttlicher Gnade und der Versuchung der weltlichen Macht sollte zum zentralen Problem des Mittelalters werden. Der kirchliche Anspruch auf geistige Führung konnte niemals vor allen Gläubigen erfolgreich vertreten werden, wenn die kirchliche Macht auf weltliche Güter gegründet
war. Je mehr Reichtümer die Kirche ansammelte, desto sichtbarer und störender wurde dieser Bruch, er konnte nie überbrückt werden, er weitete sich vielmehr aus und bestärkte Zweifel und Abweichung in jedem Jahrhundert.
    In den frühesten lateinischen Dokumenten wurde Coucy »codicianum« oder »codiacum« genannt, was wahrscheinlich auf das Wort »codex, codicis«
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