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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel
Autoren: Barbara Tuchman
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Oise. Von hier aus hatten sie Könige herausgefordert und Kirchen geplündert, waren zu Kreuzzügen aufgebrochen, auf denen sie ihr Leben lassen mußten, hier hatten sie die Strafen für die Verbrechen, die sie begangen hatten, verbüßt. Sie wurden besiegt und exkommuniziert, aber sie vermehrten ihr Land, heirateten in die königliche Familie ein und nährten den Stolz, der »Coucy à la merveille!« [Ref 5] zu seinem Schlachtruf wählte. Sie zählten zu den vier großen Baronien Frankreichs, sie verachteten Adelstitel und gaben sich ein Motto von schlichter Arroganz:
    Roi ne suis,
Ne prince, ne duc, ne comte aussi;
Je suis le sire de Coucy.
(Nicht König bin ich,
Nicht Prinz noch Herzog noch Graf,
Der Herr von Coucy bin ich.)
    1223 begonnen, stand die Burg in derselben architektonischen Tradition wie die großen Kathedralen, deren Ursprung ebenfalls in Frankreichs Norden zu finden ist. Vier der größten wurden in derselben Zeit wie die Burg der Coucys erbaut, in Laon, Reims, Amiens und Beauvais, allesamt im Umkreis von fünfzig Kilometern von Coucy. Dauerte es normalerweise fünfzig bis einhundertfünfzig Jahre, eine Kathedrale fertigzustellen, so wurden die umfangreichen Bauarbeiten in Coucy samt Bergfried, Befestigungsanlagen und unterirdischen Verbindungstunneln in dem erstaunlich kurzen Zeitraum von sieben Jahren unter dem unbeugsamen Willen eines einzigen Mannes, Enguerrand III. de Coucy, vollendet.
    Die Fläche des Burgkomplexes betrug etwa zwei Morgen. Ihre vier Ecktürme, jeder von ihnen etwa dreißig Meter hoch und gut zwanzig Meter im Durchmesser, wurden zusammen mit den drei Außenmauern direkt an den Rand des Burghügels gebaut. Der einzige Zugang zu diesem Komplex war ein Wehrtor in der inneren Mauer. Es lag nahe dem Bergfried und wurde von zwei Wachtürmen
geschützt, von Wassergraben und Fallgitter. Dieses Tor führte auf den »Place d’armes« hinaus, ein Gelände von etwa sechs Morgen, das Stallungen, Wirtschaftsgebäude, einen Turnierplatz und Weideflächen für die Pferde der Ritter beherbergte. Dahinter, wo sich der Hügel wie ein Schwalbenschwanz ausweitete, lag die Stadt mit ihren Häusern und der breittürmigen Kirche. Drei Wehrtore in der äußeren Befestigungsmauer, die den gesamten Hügel umgab, gaben den Weg in die Außenwelt frei. Auf der Südseite fiel der Hügel nach Soissons in einem steilen, leicht zu verteidigenden Abhang ab, auf der Nordseite, wo das Gelände in das Plateau von Laon auslief, versperrte ein breiter Wassergraben den Weg.
    Innerhalb der sechs bis zehn Meter dicken Mauern verband ein spiralenförmiges Treppenhaus die drei Stockwerke des Bergfrieds. Ein offenes Loch oder »Auge« im Dach des Turms, das in jeder Etage sein Gegenstück hatte, spendete spärliche Beleuchtung, im Innern herrschte immer das Halbdunkel. Die Löcher in den Dekkengewölben erlaubten es auch, Waffen und Verpflegung von Stockwerk zu Stockwerk zu hieven, ohne den beschwerlichen Weg über die Treppen machen zu müssen. Auf demselben Weg konnten mündliche Kommandos an die gesamte Besatzung erteilt werden. 1200 bis 1500 Bewaffnete konnten hören, was von der mittleren Plattform aus gerufen wurde. Der Bergfried hatte Küchen, die, wie ein beeindruckter Zeitgenosse sagte, »Kaiser Neros würdig« [Ref 6] waren. Auf dem Dach gab es einen Regenwasserfischteich, im Keller war eine Quelle; Backöfen, Lagerräume und große Feuerstellen mit Rauchabzug und Latrinen gab es in jedem Stockwerk. Unterirdische Gewölbegänge führten zu jedem Teil der Anlage, zum offenen Hof genauso wie zu den geheimen Ausgängen außerhalb der Befestigungsanlagen, durch die die belagerte Festung versorgt werden konnte. Von der Spitze des Turms konnte ein Beobachter die gesamte Gegend bis zum dreißig Kilometer entfernten Wald von Compiègne einsehen, wodurch Coucy auch gegen Überraschungsangriffe gesichert war. Diese Festung war sowohl in der Planung als auch in der Ausführung die perfekteste militärische Bastion des mittelalterlichen Europas, und sie hatte die kühnsten Ausmaße.
    Ein durchgängiges Prinzip formte die Burg: Verteidigungsanlage statt Wohnsitz. Als Befestigung war sie ein Symbol mittelalterlichen
Lebens, so beherrschend wie das Kreuz. In dem gewaltigen, alles andere als romantischen Bilderbogen des mittelalterlichen Lebens, dem Rosenroman, stellt die Burg der Rose die letzte Bastion dar, die genommen werden muß, um das Ziel der sexuellen Sehnsucht zu erreichen. In der Wirklichkeit zeugten die
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