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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel
Autoren: Barbara Tuchman
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keine Entwicklung ist frei von Gegenströmungen. Hungernde Bauern in Hütten lebten neben wohlhabenden Bauern, die in Federbetten schliefen. Kinder wurden vernachlässigt und geliebt. Ritter sprachen von Ehre und wurden zu Räubern. Mitten im Massensterben und Elend existierten Extravaganz und Luxus. Kein Zeitalter ist ordentlich und einfarbig, und keines ist aus bunterem Stoff als das Mittelalter.
    Es ist außerdem zu berücksichtigen, daß die Farben, in denen das Mittelalter geschildert wird, mit dem Betrachter wechseln. In den letzten sechshundert Jahren haben sich sowohl die Vorurteile als auch der Blickwinkel – und damit die Auswahl des Stoffes – der Historiker beträchtlich geändert. Nach dem 14. Jahrhundert war Geschichte in den nächsten dreihundert Jahren praktisch die Aufzeichnung von Stammbäumen der Adelshäuser, die Abbildung dynastischer Linien und verwandtschaftlicher Verflechtungen, getragen von der damaligen Überzeugung, daß Adlige auserwählte Menschen sind. Diese von einer enormen antiquarischen Forschung erfüllten Arbeiten geben uns aber weit mehr als nur familiengeschichtliche Informationen. Ein Beispiel ist Anselms Erwähnung eines Herzogs der Gascogne, der 100 Pfund für den Unterhalt der von ihm entjungferten Bauernmädchen hinterließ.
    Erst die Französische Revolution bezeichnet die große Wende, nach der die Historiker den gemeinen Mann als den eigentlichen Helden der Weltgeschichte ansahen, den Armen als an sich gut, Adlige und Könige als Ungeheuer an Ungerechtigkeit. Simon de Luce war mit seiner Geschichte der Bauernaufstände einer von diesen Historikern, tendenziös in seinen Texten, aber einzigartig in seiner Forschungsarbeit und unschätzbar wegen seiner Dokumente. Die großen Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Quellen ausgruben und veröffentlichten, die Chroniken ergänzten und herausgaben, die Mengen von Predigten, Abhandlungen, Briefen und anderen Primärquellen lasen und exzerpierten, haben dann den Boden bereitet, auf dem wir Nachgeborene stehen. Ihr Werk wird heute vervollständigt und ergänzt von den modernen
Mediävisten der Ära nach Marc Bloch, die einen mehr soziologischen Zugang zum Mittelalter fanden und sich vorwiegend mit den nachweisbaren Fakten des täglichen Lebens beschäftigten. So wurde z. B. die Anzahl der an eine Diözese verkauften Hostien als Maßstab praktizierter Religiosität angesehen.
    Ich stehe mit meinem Buch in der Schuld all dieser Gruppen, angefangen bei den ursprünglichen Geschichtsschreibern. Ich weiß, daß es heute unter den Mediävisten als unmodisch gilt, sich auf die alten Chroniken zu beziehen; um aber ein Gefühl für die Zeit und ihre Gewohnheiten zu bekommen, halte ich sie für unverzichtbar. Außerdem – sie erzählen Geschichte, und das will ich auch tun.
    Trotz dieses Informationsüberflusses gibt es überall da noch Lücken, wo das Problem nicht in widersprüchlicher, sondern in gar keiner Information besteht. Um diese Lücken zu überbrücken, muß man auf Erklärungen zurückgreifen, die lediglich wahrscheinlich sind oder auch nur dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Das ist der Grund für die Anhäufung der Worte »wahrscheinlich« und »vermutlich« in meinem Text. Ärgerlich, aber aufgrund des Mangels an dokumentierter Gewißheit unvermeidlich.
    Eine noch größere Gefahr stellt aber wohl die »Übermacht des Negativen« dar, die mir in der Natur der überlieferten Geschichte zu liegen scheint. Von jeher bleibt in der Überlieferung vor allem die Erinnerung an das Unglück lebendig, an den Schrecken, die Armut, den Kampf und den Schaden. Das ist in der Geschichte so ähnlich wie in der Zeitung. Das Normale macht keine Schlagzeilen. Geschichte besteht aus Dokumenten, die überleben, und die stützen sich extrem auf Krise und Unglück, auf Verbrechen und Verfehlung, denn diese Dinge sind das Thema des dokumentarischen Verfahrens, der Gerichtsakten, Verträge, Denunziationen, der literarischen Satiren und päpstlichen Bullen. Kein Papst hat je eine Bulle veröffentlicht, um seiner Zufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Eines der besten Beispiele für die »Übermacht des Negativen« ist der religiöse Reformer Nicolaus von Clamanges, der in seinen Klagen über unwürdige und verweltlichte Prälaten im Jahre 1401 schrieb, daß er in seinem Eifer für Reformen nicht über die guten
Kleriker sprechen wolle, weil sie »neben den perversen Menschen nicht zählen«.
    Das Unglück und der Schrecken können
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