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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel
Autoren: Barbara Tuchman
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aber wohl kaum so weit verbreitet gewesen sein, wie es nach der Überlieferung scheinen mag. Nur die Tatsache ihrer Überlieferung läßt sie so allgegenwärtig erscheinen. Dabei ist anzunehmen, daß sie zeitlich und räumlich nur sporadisch auftraten. Die Beharrungskräfte des Normalen sind eben doch größer als die Wirkung von Störungen, wie wir aus unserer Zeit wissen. Nach der täglichen Zeitungslektüre erwartet man, sich in einer Welt von Streiks, Verbrechen, Machtmißbrauch, Stromausfällen, Wasserrohrbrüchen, entgleisten Zügen, geschlossenen Schulen, Straßenräubern, Drogenabhängigen, Neonazis und Sexualverbrechern wiederzufinden. Tatsächlich aber ist es so, daß man an glücklichen Tagen immer noch abends nach Hause kommen kann, ohne mehr als einem oder zweien solcher Dinge ausgesetzt gewesen zu sein. Das hat mich dazu gebracht, das »Tuchmansche Gesetz« zu formulieren: Allein die Tatsache der Berichterstattung vervielfältigt die äußerliche Bedeutung irgendeines bedauerlichen Ereignisses um das Fünf- bis Zehnfache (oder um irgendeine Zahl, die der Leser einsetzen mag).
    Die Schwierigkeit, sich gänzlich in die Geistes- und Gefühlswelt des Mittelalters hineinzuversetzen, ist das letzte und größte Hindernis. Die entscheidende Barriere ist, wie ich glaube, die christliche Religion, wie sie damals war. Sie war zugleich Nährboden und Gesetz des Lebens, allgegenwärtig, wahrhaft zwingend. Ihr nachdrückliches Prinzip, daß das Leben der Seele im Jenseits dem Hier und Jetzt, dem materiellen Leben auf der Erde, überlegen sei, wird von der heutigen Welt nicht geteilt, egal wie fromm einige moderne Christen auch sein mögen. Der Zusammenbruch dieses Prinzips und seine Verdrängung durch den Glauben an den Wert des Individuums und ein tätiges Leben, in dessen Mittelpunkt nicht unbedingt ein Gott steht, schufen die moderne Welt und beendeten das Mittelalter.
    Das Problem wird noch weiter verwirrt dadurch, daß die mittelalterliche Gesellschaft, ihrer Absage an das weltliche Leben zum Trotz, diesem nicht wirklich entsagte – und niemand weniger als die Kirche selbst. Viele versuchten es, einige schafften es, aber die
Mehrheit der Menschheit ist für Entsagung nicht geschaffen. Es hat kaum eine Zeit gegeben, in der dem Geld und dem Besitz mehr Beachtung geschenkt worden wäre als im 14. Jahrhundert, und die Fleischeslust war dieselbe wie die anderer Zeiten. Der ökonomische und der sinnliche Mensch sind ununterdrückbar.
    Die Kluft zwischen dem herrschenden Prinzip der christlichen Lehre und dem Alltagsleben ist das grundlegende Dilemma des Mittelalters. Es ist auch das Problem, das sich wie ein roter Faden durch Gibbons Geschichtsschreibung zieht und das er mit einer feinen, bösartigen Leichtigkeit behandelte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit spielte er genüßlich den Gegensatz zwischen dem, was ihm als die Heuchelei des christlichen Ideals erschien, und dem natürlichen Alltagsleben der Zeit aus. Ich glaube jedoch bei aller sonstigen Wertschätzung des Gelehrten, daß Gibbons Methode dem Problem nicht gerecht wird. Der Mensch selbst war der Schöpfer dieses unmöglichen Ideals und versuchte, es aufrechtzuerhalten, ja nach ihm zu leben – mehr als ein Jahrtausend lang. Darum muß es einem tiefen Bedürfnis entsprechen, jedenfalls einem fundamentaleren, als es Gibbons aufklärerisches Denken zulassen und seine elegante Ironie bewältigen konnte. Aber, obwohl ich die Gegenwärtigkeit dieses Ideals erkenne, erfordert es eine größere Religiosität als die meine, sich damit identifizieren zu können.
    Das Rittertum, die grundlegende politische Idee der herrschenden Klasse, hinterließ eine ebenso große Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit wie die Religion. Das Ideal war die Vision einer Ordnung, die durch die Kriegerklasse aufrechterhalten wurde und in der Tafelrunde, der vollkommenen Form der Natur, ihr Sinnbild fand. Die Ritter König Artus’ zogen für das Recht gegen Drachen, Hexenmeister und Bösewichter, sie brachten Ordnung in eine verwirrte Welt. So sollten auch ihre lebenden Gegenstücke der Verteidigung des Glaubens dienen, der Gerechtigkeit, der Erlösung der Unterdrückten. In Wirklichkeit aber waren sie selbst die Unterdrücker, und im 14. Jahrhundert waren die Gewalttätigkeit und Gesetzlosigkeit der »Männer des Schwertes« eine Hauptquelle der Unordnung. Wenn die Kluft zwischen dem Ideal und der Realität zu groß wird, bricht das System zusammen. Legenden und Geschichten
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